MDR AKTUELL: Ich grüße Sie. Wie schmerzhaft ist es, mitunter Recht zu haben?

Karl Schlögl: Ja, natürlich tut es weh, wenn etwas über einen hereinbricht und ein bestimmtes Bild, das man sich von der Welt gemacht hat, dass das aus den Fugen ist und man sich neu orientieren muss. In gewisser Weise Abschied nehmen muss von dem, was man weiß, womit man sich vertraut gemacht hat. Und man muss sich neu diesen Horizont zusammenbauen, was in so unübersichtlichen Situationen wie jetzt ziemlich schwierig ist.

Wenn Sie sich zurückerinnern: Was war für Sie der Punkt, wo Sie gesagt haben, da braut sich was zusammen?

Ich habe es ja relativ spät bemerkt und ernst genommen. Im Grunde ist es bei mir mit einer Reise nach der Okkupation der Krim verbunden gewesen. Ich bin im Frühjahr 2014 in den Donbass gefahren und habe mit eigenen Augen diese Subversion und die Übernahmeversuche in Charkiw, in Slawjansk, in Donezk, in Mariupol und in Odessa beobachtet – und das ist eigentlich mein erster starker Eindruck gewesen, dass es hier ernst geworden ist und dass wir es mit Kriegstätigkeit, Kriegsaktivitäten zu tun haben.

Ich muss vielleicht erklären, warum das so spät gewesen ist. Ich hatte eigentlich keine Illusion, was das Putin-Regime angeht. Dazu war ich zu eng mit den Freunden und Kollegen von Memorial seit den Endachtzigerjahren verbunden, aber ich war eigentlich überzeugt, dass die russische Gesellschaft resilient, widerstandsfähig genug sein würde, so sehr beschäftigt mit der Einrichtung ihres Alltags, ihres Lebens, dass sie sich auf solche abenteuerlichen Aktionen wie die Okkupation der Krim und dann die Subversion im Donbass nicht einlassen würde. [...]

Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass die russische Gesellschaft sich in diese Stimmung versetzen lassen würde.

Karl Schlögel

Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass die russische Gesellschaft sich in diese Stimmung versetzen lassen würde. Nämlich den Krieg, jedenfalls was die Krim angeht, enthusiastisch mitzumachen, mitzufeiern und bis auf den heutigen Tag auch diesen ungeheuren Krieg gegen die Ukraine mitzutragen. Das ist ein großes Rätsel, wie man das eigentlich erklären kann.

Lassen Sie uns über dieses Rätsel reden. Wie schafft es aus Ihrer Sicht der russische Präsident Wladimir Putin, sein Land auf diesem Aggressionskurs zu halten? Offenbar auch, weil er die Gesellschaft erreicht, unterdrückt oder gängelt.

Ja, ganz bestimmt. Und ich glaube, man hat das lange unterschätzt, wie er die Medien, die Öffentlichkeit im eigenen Land beherrscht. Ich habe immer darauf bestanden, dass man die Neuartigkeit des Putin-Regimes ernst nimmt und analysiert. Da sind ja Elemente, die auf die vorrevolutionäre, vorsowjetische Tradition zurückgehen. Die Mobilisierung der Orthodoxie, die Abrufung des Sowjetpatriotismus, aber auch faschistische Praktiken wie ethnische Säuberung, die Russifizierung der ukrainischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten.

Ich würde vorschlagen, sich mal einen ganzen Abend nur Moskauer Fernsehen anzusehen.

Karl Schlögel

Und ich würde sagen, das deutsche Publikum sollte sich das russische Staatsfernsehen ansehen, damit man mitbekommt, was da eigentlich los ist. Den Ton, die Bilder, die Rhetorik, um sozusagen den Sound mitzubekommen, in dem die Propaganda Putins läuft. Das wäre sehr lehrreich. Ich würde vorschlagen, sich mal einen ganzen Abend nur Moskauer Fernsehen anzusehen.

Sie haben gesagt, dass es ohne eine freie Ukraine keinen Frieden in Europa geben könne. Was würde das bedeuten für den Westen und für Deutschland?

Also wenn die Europäer es nicht schaffen, die Ukraine zu schützen und zu verteidigen, dann ist es ja vollständig klar, es geht weiter und das wird im Übrigen auch ausgesprochen. Es gibt [zwar] Leute, die sagen, es sei unklar, was die Ambitionen und die Ziele des Putin-Regimes seien. Aber es wird ja ausgesprochen. Sergej Karaganow, einer dieser intellektuellen Wortführer aus der Kreml-Umgebung, sagt es ja ganz deutlich: "Wir werden euch Europäern das Rückgrat brechen."

Die Frage für mich war ja immer: Was wäre eigentlich gewesen, wenn nicht Odessa mit Raketen angegriffen würde, sondern sagen wir Marseille oder Barcelona – wie Europa dann reagiert hätte? [... ] Und ich bin der Auffassung, dass das bisher noch verschonte und in Frieden lebende Europa sich das ansehen sollte und in gewisser Weise daran auch ein Beispiel nehmen könnte.

Europa versucht, eine Position zu finden, und immer wieder taucht diese Beschreibung des stählernen Stachelschweins auf. Das meint so viel, dass es Russland, dass es Präsident Putin unangenehm sein muss, sogar riskant, die Ukraine zu berühren. Wäre das eine Option für ein Ende des Krieges?

Ja, ich teile diese Auffassung. Und Sikorski, der polnische Außenminister, hat ja im Zusammenhang mit den Drohnen gesagt, es wäre denkbar beispielsweise, dass man ein Drohnenschild oder einen Wall errichtet, nicht nur über Polen, sondern auch über die westlichen Ukraine, um zumindest den Kontakt, die Verbindung aufrechtzuerhalten. Ich glaube nur, dass die Eskalationsdominanz, die Putin von Anfang an ausgeübt hat, dass er das weiter macht und er ist sich sicher, geradezu auf eine trunkene Weise, selbstsicher, dass er der Herr des Verfahrens ist.

Wenn man sich diese Vier-Stunden-Rede auf dem Waldai-Forum angesehen hat, wie er die Europäer verhöhnt hat, dass sie ja eigentlich gar nicht ernst zu nehmen seien, dass er sich so wunderbar ausgetauscht habe mit Trump, mit dem er sich so gut verstünde, wenn nur die Europäer nicht wären. Also ich meine, das verrät natürlich auch etwas, dass er möglicherweise nicht ganz – wie soll ich sagen – mit den Realitäten vertraut ist. Die sind ja nicht ganz so, wie er das interpretiert.

Was trauen Sie denn US-Präsident Trump in dieser Situation zu, der mit Wladimir Putin telefoniert hat, sich mit ihm getroffen hat, der gedroht hat, sich abgewendet hat von Putin? Welche Rolle wird Trump spielen?

Ich glaube, es ist ganz offen. Trump hat [in den Gaza-Verhandlungen, Anm. d. Red.] wirklich ein bedeutendes Moment erzeugt und ausgenutzt, um einzugreifen und einen Prozess erstmal anzuhalten – also mit dem Waffenstillstand, der Auslieferung der Geiseln. Das zeigt, dass Amerika, wenn es wollte, die Kraft hat, zu intervenieren und eine Eskalationsdominanz zu brechen oder zum Stillstand zu bringen.

Und es gab ja diesen Hinweis mit den Tomahawk-Raketen. Ich kann das militärisch nicht beurteilen, zumal die Ukraine ja selbst inzwischen Verteidigungswaffen entwickelt hat, um die Angriffe aus Russland zu stoppen oder zu stören. Ich glaube, es ist ganz offen, aber eigentlich hätten Trump und Amerika die Kraft, Putin die Grenzen zu zeigen und ihn sozusagen in die Risiken seines Eskalationsspiels aufzuzeigen.

Könnte denn dieser Gaza-Friedens- oder -Entspannungsprozess in irgendeiner Weise eine Blaupause sein für ein Ende des Konfliktes um die Ukraine? Oder ist das gar nicht vergleichbar?

Ich glaube nur in der Hinsicht, dass es ein Momentum, wie das so schön heißt, gab und vielleicht gibt, das man ausnutzen kann, um die beiden dort aufeinanderstoßenden Kräfte zusammenzubringen. Das ist ja passiert und Trump hat in gewisser Weise sein Renommee oder sein Prestige mit dieser Tat verbunden.

Nur die Situation in der Ukraine ist eine vollständig andere. Die Ukraine ist angegriffen worden. Wenn Sie so wollen, könnte man eher sagen, es war, wenn vergleichbar, der Überfall der Hamas auf Israel. Putin stellt die Existenz einer unabhängigen, freien und souveränen Ukraine in Frage. Das ist, wenn man so will, auch die radikal-islamistische und Hamas-Linie, nämlich die Auslöschung Israels. Nur die Ukrainer haben sich gewehrt und sie wehren sich.

Und Selenskyj ist seit langem bereit, ohne Bedingungen sich zu treffen – und Putin weigert sich. Er sagt: "Ja, wir sind für diplomatische Aktivitäten", aber in Wahrheit geht es um Zeitgewinn, Zeitgewinn, Zeitgewinn, um die ukrainische Bevölkerung in die Resignation und in die Kapitulation zu bomben. Also es ist eine ganz eigene Situation und es bedarf Diplomatie, die verbunden ist mit Druck. Und nicht, wie das ein russischer Kommentator mal analysiert hat, eines Menuetts oder eines Pas de Deux von Putin und Trump.

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