Die Hoffnung auf Frieden war in Kolumbien groß. Doch davon ist nicht mehr viel übrig. In der nordöstlichen Region Catatumbo fliehen Zehntausende Menschen vor der Gewalt - vom Staat ist wenig zu sehen.

Die Herberge für vertriebene Frauen und ihre Kinder in der kolumbianischen Grenzstadt Cúcuta ist gut geschützt: Der Eingang ist vergittert, und wird von Sicherheitspersonal bewacht. Im Hof haben sich acht Frauen versammelt - unter ihnen Nelly, die nicht mit Nachnamen genannt werden möchte.

"Es war der 14. April, als unser Motorrad durch ein über der Straße gespanntes Seil gefahren ist. Das hat eine Antipersonenmine gezündet", berichtet sie. "Wir flogen im hohen Bogen, ich wusste nicht, wie mir geschah. Ich suchte nur nach meinem neunjährigen Sohn. Als er mich sah, schrie er 'Mama!'.  Ich war blutüberströmt, mein Bein war durchlöchert."

In Tibú ist die Gewalt allgegenwärtig.

Sie wirkt traumatisiert, ihr Bein schmerzt bis heute. Aus Angst vor Verfolgung wollen einige nicht offen über das Erlebte sprechen. "Ich habe Angst vor Vergeltung, ich habe zu lange dort gelebt." In ihre Heimat, die etwa vier Stunden entfernte Stadt Tibú, können sie nicht zurück: "Wir würden gerne nach Hause zurück, aber haben zu viel Angst. Jetzt erst Mitte Juli gab es wieder neun Bombenexplosionen nahe von meinem Haus."

Kämpfe um die Vormacht

Mitte Januar dieses Jahres hat das Grauen begonnen. In der schwer zugänglichen Grenzregion Catatumbo platzte die zuvor angespannte Koexistenz bewaffneter Gruppen. Seitdem kämpfen die Nationale Befreiungsarmee ELN und Splittergruppen ehemaliger FARC-Rebellen um die territoriale Kontrolle in der strategisch wichtigen Region für den illegalen Bergbau, Koka-Anbau und Drogenhandel.

Kolumbiens Präsident Gustavo Petro rief daraufhin den Notstand aus, sprach von Kriegsverbrechen und erklärte der ELN den Krieg. Die zuvor von seiner Regierung vorangetriebenen Friedensverhandlungen liegen seitdem auf Eis - doch schon zuvor verliefen die Bemühungen nur schleppend, sagt Leonardo González, Experte für den bewaffneten Konflikt in Kolumbien von der Menschenrechtsorganisation Indepaz.

Der Kampf um den Koka-Anbau in der Region ist einer der Auslöser der Gewalt.

Der Staat ist abwesend

Es gibt also zahlreiche große Konflikte und mehrere Gruppen. Der Staat hat es nicht geschafft, sich dort zu etablieren, er hat es nicht geschafft, die Bildung, Gesundheitsversorgung und die Justiz mit Richtern und Staatsanwälten zu etablieren. Wenn in Catatumbo jemand stirbt, kommen weder Staatsanwaltschaft noch Armee, um die Leiche zu bergen. Der Staat ist abwesend, und das ist ein Nährboden für Konflikte und Krieg.

Von dem "absoluten Frieden", den Petro seit Beginn seiner Präsidentschaft angestrebt hat, ist Kolumbien so weit entfernt wie lange nicht seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags von 2016: Mit der blutigen Eskalation erlebt das südamerikanische Land die größte Massenvertreibung seit Jahrzehnten, Menschenrechtsaktivisten warnen vor den Folgen für die Zivilisten. Human Rights Watch beschuldigt die ELN, die Einheimischen systematisch aus ihren Häusern gezwungen zu haben.

Zehntausende auf der Flucht

Auch Marjurie, die in der Herberge für vertriebene Frauen in Cúcuta Unterschlupf gefunden hat, berichtet von ihrer gewaltsamen Räumung: "Männer drangen in mein Haus ein, forderten mich auf, es zu verlassen, sonst würden sie mich und meinen Sohn töten. Aber warum? Sie haben behauptet, ich würde für eine Guerilla-Gruppe arbeiten. Ich sagte, ich kenne die nicht einmal, habe sie nie gesehen, die interessieren mich auch nicht."

Die Opfer werden verschleppt, vergewaltigt oder ermordet. Mehr als 70.000 Menschen sind auf der Flucht. Etwa 24.000 davon sind in der Grenzstadt zu Venezuela, Cúcuta gestrandet - die Gemeinde kommt mit der Hilfe kaum hinterher, sagt Luz Stella Lancheros von der Stadtverwaltung. "Wir haben die Geflüchteten in fast alle Hotelzimmer der Stadt untergebracht. Sie sind in einem furchtbaren Zustand hier angekommen, Kinder, Schwangere, Menschen mit Behinderungen und Ältere. Wir bitten die kolumbianische Regierung inständig darum, dass sie uns nicht vergisst. Der Konflikt geht kontinuierlich weiter."

Angst vor einer neuen Gewaltspirale

Überall im Land eskaliert jüngst erneut die Gewalt. Die Sorge in Kolumbien ist groß, dass es wieder zu einer Gewaltspirale wie in den 1980er- und 1990er-Jahren kommen könnte, als bewaffnete Angriffe von Guerillas zum Alltag gehörten. Auf diese Angst hatte die konservative Oppositionspartei Demokratisches Zentrum reagiert und für die Präsidentschaftswahl kommendes Jahr einen Kandidaten geboten, der mit harter Hand durchgreifen wollte: Miguel Uribe.

Doch dem erst 39-jährigen Senator wurde im Juni bei einer Wahlkampfveranstaltung zweimal in den Kopf geschossen, Mitte August verstarb er. Uribes Tod: Eine Botschaft an alle Präsidentschaftskandidaten, dass sie bedroht seien, sagt die kolumbianische Journalistin und Politikanalystin Juana Afanador. Einen Nachfolger für Uribe hat das Demokratische Zentrum noch nicht gewählt.

Politiker in Lebensgefahr

"Alle anderen Kandidaten von links bis Mitte und rechts haben Personenschutz angefordert, um sicher an der Politik teilnehmen zu können", sagt Afanador. So werde die politische Beteiligung zurückgehen, "denn wer sich für eine Teilnahme entscheidet, riskiert sein Leben. Dabei hatten wir in Kolumbien gedacht, dass wir das überwunden haben. Mit dem Anschlag kehren alle Ängste und Risiken der Vergangenheit zurück."

Der Ton der Parteien wird rauer im Vorwahlkampf - nicht zuletzt, weil sie sich gegenseitig beschuldigen, mit ihrer Politik die erneute Eskalation der Gewalt zu schüren. Zuletzt starben bei weiteren Attentaten insgesamt 19 Menschen, Dutzende weitere wurden verletzt. Hinter den Angriffen stecken mutmaßlich Splittergruppen der ehemaligen Guerilla FARC. Präsident Petros Friedenspolitik gerät deshalb ein Dreivierteljahr vor den Präsidentschaftswahlen immer stärker in die Kritik.

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