Wie ticken unsere niederländischen Nachbarn? Lange Zeit galt das Land als Hort der Liberalität - doch zahlreiche Probleme stellen die Harmonie zunehmend auf die Probe.

Volendam, eine Kleinstadt nördlich von Amsterdam, ist ein Ort der Kontraste. Pittoreske Fassaden, eine malerische Hafenpromenade, Touristen aus aller Welt - und gleichzeitig eine Hochburg rechter Parteien. Bei der vergangenen Parlamentswahl im November 2023 haben mehr als 45 Prozent der Menschen hier extrem rechts gewählt.

Der Fischhändler Jaap Schilder steht hinter der Theke seines Ladens und kontrolliert den Wareneingang. Die Menschen hier seien "hart arbeitende Leute, die morgens früh aufstehen und anpacken", sagt der überzeugte Rechtswähler.

Stolz ist er auf Ordnung und katholische Werte im Ort. Doch sobald es um Migration oder gesellschaftliche Vielfalt geht, zeigt sich Ablehnung. "Da kommen Menschen aus einer anderen Kultur, denen das alles hier nicht passt, wie wir leben. Und wenn denen unsere Kultur nicht passt, warum gehen sie dann nicht dorthin zurück, wo sie hergekommen sind?", fragt Jaap.

Jaap Schilder lebt in der Kleinstadt Volendam. Bei der letzten Parlamentswahl wählten hier 45 Prozent der Menschen rechtsextrem.

Politische Stimmung im Wandel

Haltungen wie diese haben die politische Debatte in den Niederlanden zuletzt maßgeblich beeinflusst. Noch vor wenigen Monaten schien der Rechtsruck unumkehrbar. Die Partei für die Freiheit (PVV) von Geert Wilders hatte die Parlamentswahl 2023 klar gewonnen und lag in den Umfragen weiter bei rund 30 Prozent.

Doch inzwischen hat sich das Bild gewandelt: Laut aktuellen Umfragen liegt die PVV nur noch bei 19,2 Prozent. Die Parteien der Mitte haben deutlich zugelegt: Die Sozialdemokraten und Grünen (GL/PvdA) kommen gemeinsam auf 18,3 Prozent, die liberal-konservative VVD auf 15,4 und die Christdemokraten (CDA) auf 13,6 Prozent. Zusammen hätten sie eine stabile Mehrheit.

Von seinem Rückzug aus der Regierung Anfang Juni konnte Wilders bisher nicht profitieren. Am 29. Oktober findet die vorgezogene Neuwahl statt. Die politische Stimmung bleibt damit typisch niederländisch: volatil, schwer zu greifen - und jederzeit im Wandel.

Parissa Sarwari kam als Kind mit ihren Eltern aus Afghanistan in die Niederlande. Sie fühlt sich angekommen, wenn auch nicht immer ganz dazugehörig.

"Es fühlt sich wie Heimat an"

Während Jaap Schilder in Volendam über Fremde schimpft, erlebt Parissa Sarwari in Amsterdam-Südost eine ganz andere Realität. Das Hochhausviertel aus den 1970er-Jahren ist Heimat für rund 100.000 Menschen, 80 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Weiße Niederländer kommen selten hierher, Begegnungen bleiben die Ausnahme.

Parissa, deren Familie in den 1990er-Jahren aus Afghanistan kam, liebt den Markt an der Metrostation: "Das ist einfach Gemeinschaft. Wir kennen die Leute hier, die Leute kennen uns, und das fühlt sich gut an."

Gleichzeitig weiß sie, dass die abgeschottete Realität ihres Viertels Vorurteile verstärken kann. "Natürlich wünschen wir uns mehr Weiße hier. Dann würden sich Niederländer mit und ohne Migrationshintergrund besser kennenlernen."

Parissa fühlt sich angekommen - und dennoch nicht immer ganz dazugehörig. Sie und ihre Freundinnen kennen Ausgrenzung aus eigener Erfahrung. "Ich habe eine Zeit lang Kopftuch getragen. In der Berufsschule war das nicht erlaubt. Freundinnen wurden bei Bewerbungen abgelehnt - wegen Kopftuch oder Herkunft."

Parissas Geschichte zeigt, wie vielfältig die Niederlande heute sind - und wie groß zugleich die Distanz zwischen den gesellschaftlichen Gruppen bleibt. Der fehlende Austausch ist eine der zentralen Herausforderungen für das Zusammenleben.

Jack Deen sucht dringend eine Wohnung. Damit ist er einer von 400.000 Menschen in den Niederlanden. Rechte Parteien machen für das Problem der Wohnungsnot vor allem Migranten verantwortlich. Jack widerspricht: "Migranten machen die Jobs, die wir nicht machen wollen."

"Ich fühle mich wie ein Versager"

Ein weiteres Thema, das viele Niederländer beschäftigt, ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Der 27-jährige Jack Deen aus Volendam arbeitet Vollzeit, hat studiert - und wohnt trotzdem noch bei seinen Eltern. "Ich suche seit Jahren, aber die Wartelisten sind endlos. Gestern habe ich wieder geschaut, da hatte ich eine Panikattacke. Ich fühle mich völlig am Ende, wie ein Versager."

Mehr als 400.000 Menschen in den Niederlanden sind in einer ähnlichen Lage. Rechte Parteien machen dafür vor allem Migranten verantwortlich: Gäbe es weniger Zuwanderung, so die Argumentation, gäbe es mehr Wohnungen für Niederländer. Jack widerspricht: "So funktioniert das nicht. Migranten machen die Jobs, die wir nicht machen wollen. Ohne sie bricht die Wirtschaft zusammen."

Die Zahlen geben ihm recht: Seit den 1950er-Jahren hat sich die Bevölkerung des Landes nahezu verdoppelt - auch, weil die Wirtschaft auf Arbeitsmigration angewiesen ist. Gleichzeitig wurde zu wenig gebaut.

Und viele Neubauprojekte scheitern aktuell an Umweltauflagen: In weiten Teilen des Landes sind die zulässigen Stickstoff-Grenzwerte bereits überschritten und die Regierung ist angehalten, die eigenen Gesetze zum Schutz der Natur einzuhalten. Hauptursache für die hohe Stickstoffbelastung ist zwar die Landwirtschaft, aber auch der Neubau von Häusern würde zu weiteren Stickstoffemissionen führen. Die Regierung steht vor einer Grundsatzentscheidung: Soll mehr gebaut werden oder die Zahl landwirtschaftlicher Betriebe gesenkt werden.

Zwischen Nostalgie und Zukunft

Ob in Volendam, wo alte Traditionen gepflegt und Fremde mit Misstrauen betrachtet werden, oder in Amsterdam-Südost, wo Vielfalt gelebt wird - das Bild der Niederlande ist komplex und widersprüchlich.

Das Land steht vor großen Herausforderungen: Wohnungsnot, Migration, Umweltkonflikte. Zugleich ringt es mit der Frage, wie viel Wandel es zulassen will - und wie sehr es an Gewohntem festhalten möchte.

Die Weltspiegel-Dokumentation "Niederlande ungefiltert: Wer seid Ihr wirklich?" sehen Sie am 24. August um 18:30 Uhr im Ersten und ab sofort in der ARD-Mediathek.

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