In Brasilien setzt Bundesrichter de Moraes Angriffen auf die Demokratie enge Grenzen - und hat sich damit bereits den US-Präsidenten zum Feind gemacht. Überzieht er im Kampf gegen die extreme Rechte?

Als "Oberdiktator" Brasiliens bezeichnete ihn Jair Bolsonaro, als "Psychopathen" und "Gangster in Richterrobe" dessen Sohn Eduardo. US-Tech-Milliardär Elon Musk verglich ihn mit Bösewicht Lord Voldemort. Brasiliens Bundesrichter Alexandre de Moraes ist innerhalb kürzester Zeit zum Feindbild mächtiger Männer der globalen Rechten geworden.

Nun hat er auch noch den Präsidenten der Vereinigten Staaten als Gegner: Donald Trump forderte, dass der Strafprozess gegen seinen Verbündeten, Ex-Präsident Bolsonaro, beendet wird. Das sei eine "Hexenjagd".

Moraes' Kampagne gegen Online-Desinformation sieht das Weiße Haus außerdem als Angriff auf die freie Meinungsäußerung. Die USA entzogen Moraes das Visum, das Finanzministerium verhängte dazu Sanktionen nach dem sogenannten Magnitsky-Act. Die werden eigentlich nur gegen ausländische Regierungsvertreter verhängt, die sich Verletzungen der Menschenrechte haben zuschulden kommen lassen.

Er werde die Sanktionen ignorieren und seine Arbeit fortsetzen, erklärte Alexandre de Moraes daraufhin unbeeindruckt. Am selben Tag noch ließ sich der Richter des Obersten Gerichtshofes (STF) bei einem Fußballspiel seines Lieblingsvereins Corinthians fotografieren: Darauf hebt er demonstrativ den Mittelfinger. Klarer könnte die Geste nicht sein.

Dem früheren Präsidenten Jair Bolsonaro drohen 40 Jahre Haft, weil er am Putschversuch im Januar 2023 nach seiner Wahlniederlage mitgewirkt haben soll.

Viel Zuspruch, aber auch Abneigung

De Moraes gilt als unerschrocken und kompromisslos - das bringt ihm viel Zuspruch, macht ihn aber auch zum Feindbild. "Für die Rechte ist er voreingenommen, autoritär und zensiert die Meinungsfreiheit", sagt der Politikwissenschaftler und Philosoph Pablo Ortellado von der Universität São Paulo.

Er forscht außerdem zum Aufkommen des neuen Rechtspopulismus und zu Desinformation in sozialen Netzwerken. "Fragt man Linke und Anti-Bolsonaro-Gruppen, dann ist Moraes der Verteidiger der Demokratie gegen die Angriffe, die sie in letzter Zeit durchlebt hat."

Dabei war es einmal genau andersherum: Moraes machte sich als Staatsanwalt und Justiz- und Sicherheitsfunktionär in São Paulo einen Namen, der mit harter Hand unter anderem auch gegen linke Demonstranten vorging. Unvergessen auch das Video, in dem er mit der Machete gegen Marihuana-Pflanzungen zu Felde zieht.

Alexandre de Moraes machte sich als strenger Staatsanwalt in São Paulo einst einen Namen. Viele, die ihn damals kritisierten, loben ihn heute für sein Eintreten für die brasilianische Demokratie.

Eine Art "Sheriff"

Es war der konservative Interimspräsident Michel Temer, der Moraes 2017 ans Oberste Gericht holte. Die Linke protestierte damals gegen den Hardliner mit kahlgeschorenem Kopf und stechendem Blick, heute feiern ihn viele dieser früheren Kritiker als "Xandão", als großer Alexander.

Moraes sei eine Art "Sheriff" geworden, sagt Ortellado. Ihm sei vom Obersten Gericht die "Mission" übertragen worden, mit harter Hand gegen digitale, verbale und physische Bedrohungen der brasilianischen Demokratie vorzugehen.

Das macht ihn nicht nur zu einer der umstrittensten Personen in Brasilien, er wird damit auch zur Schlüsselfigur in einer weltweit immer polarisierter geführten Debatte über freie Meinungsäußerung, Big Tech und die Macht des Staates.

Duell mit Elon Musk

Sein gnadenloser Kampf gegen Fake News führte vergangenes Jahr dann zum erbitterten Duell mit Elon Musk: Er ließ dessen Plattform X mehrere Wochen sperren, weil sich Musk weigerte, der Aufforderung nachzukommen, Konten zu blockieren, die nach Moraes' Auffassung demokratiefeindliche Inhalte verbreiteten, etwa die Behauptung, Brasiliens Wahl 2022 sei manipuliert worden.

Den Vorwurf der Zensur schmettere Moraes stets ab: "Meinungsfreiheit ist nicht gleichbedeutend mit Aggressionsfreiheit", erklärte er. Sie beinhalte nicht, die Demokratie, ihre Grundpfeiler und die Unabhängigkeit der Justiz anzugreifen.

Ermittlungen gegen Bolsonaro

Schließlich war inzwischen der 8. Januar 2023 geschehen, Brasiliens Pendant zum Sturm auf das Kapitol 2021: Tausende Bolsonaro-Anhänger hatten damals, Regierungsgebäude gestürmt, neben dem Regierungspalast und dem Kongress auch das Oberste Gericht. Teils aufgestachelt und orchestriert durch soziale Netzwerke forderten sie das Militär zum Umsturz auf.

Moraes erließ reihenweise Haftbefehle, und leitete Ermittlungen gegen Bolsonaro ein, der schon monatelang im Voraus daran gearbeitet haben soll, die Machtübernahme von Lulas Arbeiterpartei mit Hilfe des Militärs zu verhindern.

Zudem soll Bolsonaro in Kenntnis des Planes gewesen sein, den heutigen Präsidenten Lula da Silva, dessen designierten Vizepräsidenten und eben Alexandre de Moraes ermorden zu lassen. Nun drohen dem Ex-Präsidenten 40 Jahre Haft.

8. Januar 2023: Anhänger des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Bolsonaro stürmen den Palacio do Planalto, den Sitz des brasilianischen Präsidenten.

Bolsonaro droht langjährige Haft

In Brasilien, wo die Erinnerung an die 20 Jahre andauernde Militärdiktatur noch schmerzhaft lebendig ist, loben viele Moraes für seine Kompromisslosigkeit. Andere werfen ihm vor, zu weit zu gehen. Er ordnete Hausdurchsuchungen und Ausreiseverbote an, ließ Menschen ohne Gerichtsurteil inhaftieren, erließ in manchen Fällen überzogene Gefängnisstrafen.

Möglich war das auch, weil der Oberste Gerichtshof angesichts der angespannten politischen Lage 2022 Sonderbefugnisse bekam, selbst Ermittlungen zu führen - Ermittlungen auch zum Sturm auf Regierungsgebäude im Januar 2023, bei denen der Oberste Gerichtshof selbst zum Ziel von Attacken wurde. Die Richter sind in den Ermittlungen also auch selbst Opfer.

Mahnende Wort

Viele sehen diese Vermischung der Rollen kritisch. "Die Entschlossenheit und der Mut von Alexandre de Moraes waren entscheidend, um die reale Gefahr für unsere Demokratie einzudämmen", sagt Politikwissenschaftler Pablo Ortellado von der Universität São Paulo.

Allerdings habe sich die Situation verändert, die unmittelbare Gefahr für die brasilianische Demokratie sei gebannt. Der Oberste Gerichtshof sollte seine unorthodoxen Maßnahmen daher aufgeben und gemäßigter und nüchterner agieren, glaubt der Philosoph: "Wir brauchen ein Justizsystem, das, in der Polarisierung, die wir erleben, von beiden Seiten als legitim und unparteiisch angesehen wird." Denn das werde bei den Wahlen im kommenden Jahr eine grundlegende Rolle spielen.

Gericht hat weitreichende Kompetenzen

Brasiliens Verfassung räumt dem STF, wie das Oberste Gericht in Brasilien abgekürzt wird, tatsächlich weitreichende Kompetenzen ein. Eine Parallelregierung oder "Diktatur der Roben", wie Bolsonaro-Anhänger ihnen unterstellen, bilden die elf Richter des STF aber bei weitem nicht.

Dass ihr Einfluss so gewachsen ist, hat auch mit der wachsenden Polarisierung in der brasilianischen Politik selbst zu tun. Immer öfter blockiert sich das Parlament selbst - das war beispielsweise auch bei der Regulierung von Social-Media-Plattformen der Fall oder bei einer umstrittenen Initiative zur Ausweisung indigener Schutzgebiete. Immer häufiger landen solche Initiativen im Streitfall vor Gericht. Grundrechte werden dabei ebenso wenig ausgesetzt, wie Parlament oder Exekutive ausgeschaltet.

Dass die Trump-Regierung diesem Narrativ nun aktiv Rückendeckung gibt, dürfte noch einen weiteren Grund haben. Brasiliens Ex-Präsident Bolsonaro, der während seiner Amtszeit selbst stolz auf den Beinamen "Trump der Tropen" war, war immer ein treuer Verbündeter Trumps. Einige der Vergehen, die ihm nun vorgeworfen werden, ähneln denen seines Vorbildes. Nur wurde Trump - anders als Bolsonaro - nie zur Rechenschaft gezogen.

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