„Ideal ab 8 Jahren! Verpflichtend ab 21! Verjüngend ab 40! Freier Eintritt ab 99 Jahren!“ So wirbt nicht das neueste Fahrgeschäft auf dem Prater, sondern – kaum zu glauben – das Wiener Burgtheater mit einem „Spektakel für alle“! Menschen, Tiere, Sensationen? Auf dem Spielplan steht „Gullivers Reisen“ als gut gelauntes Musical mit Liliputanern, Riesen, fliegenden Inseln und sprechenden Pferden. Hinter dem Spektakel steckt ein Erfolgsduo, das offenbar genau weiß, wie man das Wiener Publikum glücklich macht.

Nils Strunk und Lukas Schrenk sind eine Hitmaschine. Ihre Stücke? Immer ausverkauft. Ihr Rezept? Bekannte Stoffe im frischen Makeover, dazu ein paar gute alte Theatertricks und viel Musik. Musical, aber anders. So erobert das Duo gar eine der letzten Bastionen des klassischen Sprechtheaters wie das Burgtheater im Sturm. Mit „Die Zauberflöte“ und „Schachnovelle“ stehen im Burgtheater zwei ihrer Hits auf dem Spielplan. An der Wiener Volksoper haben sie kürzlich außerdem noch „Killing Carmen“ inszeniert.

Für „Gullivers Reisen“ frohlockten Strunk und Schrenk bereits im Voraus, die ganze Zauberkiste des Theaters auf die Bühne zu bringen. Keineswegs eine Übertreibung. Maximilian Lindner präsentiert als Bühnenbild unter anderem ein der Länge nach aufgeschnittenes Segelschiff mit drei Etagen, auf denen sich die Komparsen wie im Wimmelbild tummeln. Und die bunten und fantasievollen Kostüme von Anne Buffetrille lassen kaum Wünsche offen. Man will dem Publikum etwas bieten.

Als Jonathan Swift seinen Roman vor fast 300 Jahren veröffentlichte, fingierte er als Herausgeber den Neffen des Abenteuerreisenden Lemuel Gulliver. Am Burgtheater wird das direkt auf die Bühne übertragen: Stefko Hanushevsky als Neffe ist ein Showmaster, der „Gullivers Reisen“ auf die Bühne bringt, während Martin Schwab als alter und bereits leicht verwirrter Gulliver immer wieder in die Aufführung stolpert, in der sein jüngeres Ich von Gunther Eckes verkörpert wird. Ein charmantes Spiel mit den Ebenen.

Das Ensemble – außer den Genannten noch Lola Klamroth, Dietmar König, Annamária Láng, Rebecca Lindauer und Markus Meyer – spielt mit Tempo und sichtbarer Freude. Das Publikum bricht zwischendurch in Szenenapplaus aus. Und tatsächlich sind auch einige Kinder in der Premiere am Sonntagabend, von denen nur manche nach insgesamt knapp drei Stunden schlafend von ihren Eltern aus dem Saal getragen werden müssen. Die meisten sind putzmunter und scheinen wie die Erwachsenen bestens amüsiert.

Der Abend lebt von der Musik: Es spielt eine sechsköpfige Live-Band unter der Leitung von Strunk, der auch komponiert hat. Die Texte sind von Schrenk. Herausgekommen ist eine lässige Mischung, die schon beim Broadway-Hit „Hamilton“ in New York gezündet hat: klassischer Musical-Sound, hitverdächtiger Pop und etwas Hip-Hop, dazu viel Witz. Keine Scheu vor Kitsch und Gefühl, und auch nicht vor Ironie und Brüchen. So werden im Publikum alle „abgeholt“, wie es heute immer so schön heißt, von jung bis alt.

Gibt es bei all der bunten Verpackung auch einen ernsten Kern der Inszenierung? Ja, tatsächlich. Wer in Fantasiewelten reist, begegnet dem Fremden, wodurch das Eigene nicht mehr selbstverständlich erscheint und selbst fremd wird. Eine Begegnung mit der Vielgestaltigkeit des menschlichen und außermenschlichen Lebens als Quelle aller moralischen Urteile, die in die Frage Immanuel Kants münden: Wie wollen wir leben? Bei Gulliver am Ende lieber mit den sprechenden Pferden als den Menschen seiner Zeit.

Indem Swift von fantastischen Welten erzählt, beschreibt er auch eine soziale Welt. Immer wieder blitzt seine scharfe Gesellschaftssatire auf. So trifft der Protagonist bei den Liliputanern auf eine Gesellschaft, die durch das verschiedene Aufschlagen der Frühstückseier zutiefst gespalten ist: in Spitzender und Stumpfender (man ahnt, von wem sich zwei Jahrhunderte später ein gewisser Bertolt Brecht inspirieren ließ, als er seine selten gespielte Faschismusparabel „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“ schrieb).

Nach dem Schlussgesang („Wir sind alle Sklaven, Schurken und Narren“) setzt Jubel ein, es gibt stehenden Applaus. Für die Provinz sagt man schon länger, dass nur Musicals noch zuverlässig für volle Säle und Kassen sorgen. Gilt das nun auch in Wien? „Die Musik rettet dem Sprechtheater seit zehn Jahren den Arsch“, ließ sich Strunk im Vorfeld der Inszenierung in „Der Standard“ zitieren. Das Publikum leide an einer „postdramatischen Belastungsstörung“, so Strunk. Braucht es nun endlich Entlastung?

Ist die kommende Kulturrevolution die Musicalisierung des Sprechtheaters? Nur gibt es doch längst Musicals en masse: In Wien wird zurzeit im Prater eine neue Musicalbühne gebaut, die dritte der Stadt – mit fast 2000 Plätzen. Bis die eröffnet, werden Strunk und Schrenk noch einige ihrer musikalischen Abende auf die Theaterbühnen bringen. „Die Zauberflöte“ wird bereits von mehreren Theatern nachgespielt. Und bereits Ende November feiert „Pinocchio“ in Wien Premiere, dieses Mal im Kinder- und Jugendtheater Dschungel. Und mit „Gullivers Reisen“ ist klar: Auch das Burgtheater kann Musical.

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