Mit dem Boot erreichte man jeden Punkt des Comer Sees schneller als mit dem Auto. Die ständig verstopften Uferstraßen umgaben den Lago wie ein verkalktes Herzkranzsystem.“ Eine Urlaubsregion kurz vor dem Infarkt? Wie praktisch, dass es für solche Staumeldungen inzwischen Romane gibt! Gleich zwei neue Werke schicken sich in diesem Sommer an, der Fremdenverkehrsfunk in Buchform zu sein. Oliver Maria Schmitt, der frühere Chefredakteur der Satirezeitschrift „Titanic“, betextet die Gegend in „KomaSee“ so redselig wie Hape Kerkeling weiland den Jakobsweg. Zum Zweiten entwirft der Roman „Erdrutsch“ von Burkhard Spinnen und Charles Wolkenstein ein Szenario, wie die malerische Urlaubskulisse „in naher Zukunft“ zur Anti-Idylle mutieren könnte.

Wenn Sie beide Bücher neben- oder gegeneinander lesen, können Sie problemlos bei jedem Comer-See-Quiz reüssieren. Und vielleicht auch die Gretchenfrage des Genres beantworten: Gibt es – analog zum Wein, der nur am Urlaubsort schmeckt – Bücher, die vor allem als Ferienbegleitschreiben funktionieren?

Der Comer See, bei Deutschen traditionell nicht so populär wie Gardasee und Lago Maggiore, zählt seit einiger Zeit zu den Top-Zielen des internationalen Jetsets. Spätestens, seit sich ein Casino in Las Vegas 1998 den Namen „Bellagio“ gab, seit Hollywood-Star George Clooney 2002 eine Sommerresidenz in Laglio erwarb und seit Location Scouts für „James Bond: Casino Royale“ und „Star Wars: Episode 2“ hier fündig wurden, kennt der Massentourismus kein Halten mehr. Heute sind die Orte am Lake Como vor allem eines: „instagrammable“.

Tatsächlich können Sie sich ein Taxi am Comer See sparen, denn auf der eingangs erwähnten Stop-and-Go-Uferstraße ist es garantiert nicht schneller unterwegs als der Omnibus. Nehmen Sie den, steigt zur Feier des Tages vielleicht sogar der Dorfälteste von Cadenabbia zu und erzählt Ihnen, wie er Ende der 1950er Jahre als Schüler Spalier stand, wenn Konrad Adenauer, der erste Kanzler der Bundesrepublik, regelmäßig hierher in die norditalienische Sommerfrische kam.

Das Kanzlerdomizil, die Villa Collina, ist heute Sitz der Konrad-Adenauer-Stiftung und wer wissen will, welcher Typus Mensch dort verkehrt, sollte zu Schmitts „KomaSee“ greifen. Auch CDU-Parteichef und Inzwischen-Kanzler Friedrich Merz hat im Buch als Person der Zeitgeschichte seinen Auftritt, nicht namentlich, aber als „ihrer aller Anführer“ und wenig schmeichelhaft gezeichnet als „Typ Drückerkolonnenantreiber mit Umsatzvorgabe“. Zudem bemüht sich Schmitt mittels Rollenprosa, das Attribut „Aubergine“ für Merz einzuführen. Eine Reminiszenz an die „Titanic“-Tradition der Kohl-Birne. Nun ja.

„Wo aber blieb Mister Clooney?“

„KomaSee“-Hauptfigur und kritische Beobachterin von Merz & Co ist die Deutsch-Italienerin Elena Barone; sie pflegt „valide Vorbehalte“ gegen Herrschaften in hellblauen Businesshemden, sie trinkt gern (Lugana, Moretti, Negroni) und sie ermittelt in Sachen George Clooney – nicht etwa als Polizistin oder Privatdetektivin, sondern Paparazza. Ein darbender Beruf, denn in Zeiten von Social Media werden Promis nicht mehr abgeschossen, sie knipsen und posten sich selbst. Deswegen muss sie zum Broterwerb auch Parteifreude in der Adenauer-Akademie fotografieren. Esse est percipi.

Nur hat in diesen Looklism-Zeiten ausgerechnet der alte, an sich sehr fotogene Adenauer Pech, denn sein Bronzedenkmal am Quai von Cadenabbia macht alles andere als bella figura: „primatenhaft vornübergebeugt wie ein Orang-Utan… Wie lange würde er sich noch auf seinen dünnen Beinchen halten können?“ Adenauers Bocciakugeln erinnern Signora Barone an „Pferdeäpfel. Oder verlorene Wanderhoden?“ Adenauers Bronzehut scheint ihr ein Taubenlandeplatz – und überhaupt mag sich Autor Schmitt gar nicht wieder einkriegen. „Von links vorne schien seine rechte Hand das eigene Gemächt zu tragen; von rechts vorne sah er aus wie ein watschelnder Erpel auf Landgang … So stand er da, der Alte aus Rhöndorf. Kein Platz in der Geschichte, auf den man stolz sein konnte“. So weit, so sehr „Titanic“-Style.

Wo aber bleibt Mister Clooney? Auch wenn der „KomaSee“-Plot dahingehend hanebüchen gesponnen ist, kann man sich von diesem „Roman“ unterhalten lassen – wenn man von seiner Schwatzhaftigkeit absieht. Romane von Satirikern sind und bleiben verkappte Kolumnen, ganz egal, ob die Häme Adenauer-Statuen, den Mussolini-Kult der Italiener oder den Musikgeschmack der TikTok-Generation trifft. Selbst der Titisee im Schwarzwald bekommt sein Fett weg, als piefiger Antipode zum Comer See mit seiner mediterran „aufdringlichen Grandezza“.

Thematisch verbindlicher geht es in der zweiten Comer-See-Fiktion dieses Sommers zu. „Erdrutsch“ von Burkhard Spinnen und Charles Wolkenstein spielt mit dem Thrill, dass durch den auftauenden Permafrost infolge des Klimawandels ganze Gebirgsstöcke ins Rutschen geraten. Murgänge, also Lawinen aus Schlamm und Geröll, sind in den Alpen schon heute ein Thema.

Und sie bilden die unerhörte Begebenheit, die im Roman „Erdrutsch“ nicht nur das Landschaftsbild bedrohen, sondern auch die wirtschaftliche Grundlage derjenigen, die vom Tourismus leben. Spinnen und Wolkenstein, beide Jahrgang 1956, sind Freunde und haben ein Buch voller Dramatik und Drive geschrieben. In ihrem Szenario gibt es einerseits Bergrutsche in Serie: Naturkatastrophen, die auf die Erderwärmung zurückzuführen sind. Und es geht andererseits um den Umgang damit. Soll man sich die immer besser erforschten Frühwarnfähigkeiten von Tieren (oder gar von Menschen, die auf diese Tiere hören) zu eigen machen? Oder soll man der andauernden Nutzung sensibler Landschaften durch Investoren, Hoteliers, Tourismuspolitiker und Touristen einen dauerhaften Riegel vorschieben? So fordern es im Roman „Erdrutsch“ die Aktivisten der „Burnt Generation“.

„Erdrutsch“ von Spinnen/Wolkenstein

Fast schon didaktisch gibt sich der Roman „Erdrutsch“ in der Art und Weise, wie er seine Themen auffächert. Etwas schachbrettartig wirkt das Figurentableau, das die genannten Zielkonflikte repräsentiert. Da ist der Bergsteiger und Hüttenwirt Aurelio Campanna (so ein Zufall: italienisch capanna heißt Hütte), der mit seinen tibetanischen Gebetsfahnen auf dem Monte Croce di Muggio lebt und für sanften Tourismus steht. Da ist der verrückte Vogelmann Giorgio Colomba (so ein Zufall: italienisch colomba heißt Taube) – eigentlich Tierarzt, der besondere Beziehungen zu bestimmten Vogelarten pflegt und Laute von Eichelhäher und Krähe wie ein Guru nachahmen kann. Natürlich hat der Vogelmann auch einen Auftritt auf dem Mailänder Domplatz, der unter der Taubenplage leidet.

Da ist die Ordensschwester, die im verrückten Vogelmann einen neuen Franz von Assisi, der mit den Vögeln spricht, sehen will. Da ist die Max-Planck-Forscherin, die von einer Fusion aus Big Data und Animal Studies träumt; da ist die Unternehmensberaterin, die im Greenwashing-Business tätig ist und sich aus dem Gefühl entfremdeter Arbeit mit einer Klima-Aktivistin aus Chur anfreundet, Typus reiche Tochter aus gutem Hause. Neben Klima-Aktivisten, die in „Erdrutsch“ mit verschiedenen Aktionen auffällig werden, treten im Roman auch Leute auf, die allergisch auf jeden Aktivismus reagieren, zumal dieser selbst zu einer Form von Protesttourismus geworden ist, der heute die Gotthardautobahn blockiert, morgen das Engadin abriegelt und übermorgen Investoren sabotiert, die am Comer See ein Resort namens „Little Tibet“ planen.

Die Fragen, die „Erdrutsch“ aufwirft, sind relevant, vielleicht sogar Blaupause für ein neues Genre der Urlaubslektüre: den tourismuskritischen Gesellschaftsroman. Es ist zum Glück kein Tendenzroman, der einem eine bestimmte Antwort aufnötigt. Reine Klimawandelfolgen-Erklärbärprosa ist es auch nicht, weil die Autoren – erkennbar Fans der Region – mit Lokalkolorit renommieren. So wartet der Roman mit ortstypischen Antipasti, Weinsorten und sogar mit den Namen sämtlicher auf dem Comer See verkehrenden Fährschiffe auf. Was man als pedantisches Wissen verbuchen könnte, ist ein Distinktionsmerkmal, das den Stammgast mit Zweitwohnsitz und Insiderkenntnissen vom ignoranten Instagram-Idioten unterscheidet, der sich mit Selfiestange für maximal einen halben Tag in die „Lake Como“-Szenerie morpht. Touristen sind – frei nach Evelyn Waugh – ja immer die anderen.

„Erdrutsch“ baut Spannungsmomente auf: Der Vogelmann bürgt für Mystery, die dramatisch gesteigerte Frequenz von Bergrutschen im ganzen Alpenraum lässt zwischenzeitlich eine Wendung zum dystopischen Katastrophenthriller erwarten, doch diese Genrekarte wird nicht ausgespielt, denn Plot, Figurenzeichnung und Finale bleiben dem Setting eines Alpenkrimis verpflichtet (es gibt einen Schuss, aber keine Leiche!). Selbst die Pointe einer Hangbefestigung durch Trüffelwälder, die eine Alternative zum Tourismus darstellen könnte, scheint vor allem den Feinschmeckern zu schmeicheln, deren Comer-See-Welt ohnehin schon aus Pizzoccheri, Polenta und Bresaola besteht.

Bezeichnend, dass diese drei lombardischen Spezialitäten sowohl in „Erdrutsch“ als auch in „KomaSee“ nicht fehlen. Das ist vielleicht der blinde Fleck beider Bücher: Schmitt und Spinnen/Wolkenstein kennen und lieben ihren Comer See zu sehr, um wirklich böse oder verstörend über ihn zu schreiben. Die subkutane Botschaft beider Romane ist entsprechend brav: Mögen Klimawandel und Massentourismus auch über uns gekommen sein – solange Aussicht, Speisekarte und Weinauswahl im Hier und Jetzt stimmen, bleibt unser Lago behaglich.

Und falls Sie Ihr Feriendomizil dort noch suchen: „Erdrutsch“ erklärt mit Baedeker-Genauigkeit, welche Seeseite die bessere Abendsonne hat, „KomaSee“ warnt vor Illusionen: Denn Sonne am See heißt in klimagestressten Zeiten ohne energiefressende Klimaanlage eben auch: „Die Dachkemenate verwandelte sich allmählich wieder in einen umluftlosen Backofen.“

Burkhard Spinnen, Charles Wolkenstein: Erdrutsch. Kanon, 364 Seiten, 25 Euro

Oliver Maria Schmitt: KomaSee. Rowohlt Berlin, 317 Seiten, 24 Euro

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