Inhalt des Artikels:

  • Über die Wahrheit sprechen – auch, wenn sie weh tut
  • Gerüchte aus den 90ern
  • Ein Mosaik aus Zeugenaussagen
  • Juristische Aufarbeitung?

Zusammen mit meinem Cousin Faruk Osmanović sehe ich mir den Dokumentarfilm Sarajevo Safari des slowenischen Regisseurs Miran Zupanič an. Eigentlich ist Faruk immer gut gelaunt. Doch nachdem der Film geendet hat, ist er wie ausgewechselt. Auf der Leinwand haben zwei Zeugen – ein Slowene und ein Bosnier – unabhängig voneinander berichtet, wie reiche Ausländer umgerechnet bis zu 100.000 Euro bezahlten, um während des Bosnienkrieges auf Zivilisten in der belagerten Stadt zu schießen. Kinder zu töten hätte extra gekostet. Schüsse auf Alte und Kranke gab es "gratis dazu". Faruk, der seine Kindheit in den frühen 1990ern im Krieg im belagerten Sarajevo verbracht hat, fehlen erstmal die Worte.

Mahnmahl für die 1.600 während des Bosnien-Krieges getöteten Kinder von Sarajevo. Bildrechte: IMAGO/Anadolu Agency

"Verdammt, es tut doch noch weh, wenn man die Bilder wieder sieht", sagt er dann. Er erinnert sich, wie viele seiner Freunde und Verwandten insgeheim hofften, dass ein Schuss, wenn er schon kommt, sie sofort töten möge. Die Angst, schwer verletzt oder für immer invalide zu überleben, war oft größer als die Angst vor dem Tod. Von den Safari-Touristen wusste er nichts.

Über die Wahrheit sprechen – auch, wenn sie weh tut

Zur Erinnerung: Zwischen 1992 bis 1996 war die bosnische Hauptstadt Sarajevo eingeschlossen von Artillerie und vor allem von Scharfschützen. 1.425 Tage dauerte die Belagerung durch die Armee der Republika Srpska und gilt somit als die längste des 20. Jahrhunderts. Rund 11.000 Zivilisten wurden in dieser Zeit getötet, darunter 1.600 Kinder.

Muamer Klino, der zu Kriegsbeginn zwölf Jahre alt war, hatte keine Ahnung davon, dass Touristen damals zum Vergnügen auf Kinder wie ihn Jagd gemacht haben sollen. Nur, dass unter den Scharfschützen auch Ausländer waren, war bekannt, erzählt der 45-jährige Polizeioffizier. Viele seiner Nachbarn im Stadtteil Bistrik wurden von Scharfschützen getötet, seine Mutter verletzt. "Bei Granatenangriff suchte man Schutz in den Kellern. Vor den Scharfschützen konnte man nicht fliehen, weil die Linien so nah an der Stadt waren. Wer die Straße überquerte, spielte mit seinem Leben", so Klino.

Polizeioffizier Muamer Klino war zu Kriegsbeginn zwölf Jahre alt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Manchmal warnte auch die serbische Armee selbst vor Fremden, die am Wochenende zum Schießen kämen. Die bosnische Armee und die Zivilbevölkerung gingen allerdings davon aus, dass es sich hierbei um Söldner handelte – oder um serbische Nationalisten, die zwar keine Soldaten waren, aber trotzdem am Krieg teilhaben wollten. "Wir nannten sie Weekend-Četniks", erzählt der bosnische Armee-Veteran Naser Husić. Četniks nannte man damals die serbischen Milizionäre.

"Punkt vier Uhr freitags bis vier Uhr sonntags haben sie uns beschossen. Sie waren besonders brutal." Husić, der heute als Dolmetscher für Gebärdensprache arbeitet, war 24 Jahre alt, als der Krieg ausbrach und er sich der Armee von Bosnien und Herzegowina anschloss. Er diente direkt an der Frontlinie im des Stadtteil Grbavica – dort, von wo aus mutmaßlich die ausländischen Hobbyschützen schossen.

Naser Husić kämpfte in der Armee von Bosnien und Herzegowina.Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Dem 57-Jährigen fällt es schwer, über den Krieg zu reden: "Doch bei diesem Thema kann man nicht wegschauen. Wegen der Wahrheit. Vor allem ist es schlimm für die Menschen, die auf diese grausame Weise getötet wurden. Nicht nur Kinder und Frauen, sondern auch alte Menschen, die man gratis abschießen durfte. Das geht nicht in meinen Kopf", sagt er und kann die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Gerüchte aus den 90ern

Erste Gerüchte über die "Menschen-Safaris" gab es bereits während des Krieges: Der bekannte bosnische Kriegsreporter Šefko Hodžić liest 1995 zum ersten Mal Medienberichte über die Menschenjagden. Und hält sie zunächst für zu absurd, um wahr zu sein. Dennoch beginnt er, zu recherchieren, und es braucht nur wenige Tage, bis ihm ein bosnischer Armee-Kommandant bestätigt, dass auch er Kenntnis von den Vorfällen habe. Im Gespräch mit dem MDR sagt Hodžić: "Zu diesem Zeitpunkt war es uns egal, wer uns tötet. Schlimm war, dass wir getötet werden. Und deshalb gingen wir nicht näher darauf ein." Heute bewertet der 80-Jährige die Geschichte anders: "Erst jetzt wird klar, was für ein Verbrechen damals passierte."

Šefko Hodžić arbeitete während des Bosnien-Krieges als Reporter und recherchierte bereits 1995 zu den "Menschen-Safaris". Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Auch der Produzent und der Regisseur von Sarajevo Safari, Franci Zajc und Miran Zupanič, hatten die Gerüchte schon 1993 gehört, als sie einen Film im Kriegsgebiet drehten. Jahre später erinnert sich Zajc an diese Geschichten und beginnt nachzuforschen. Tatsächlich findet er einen Zeugen: Ein slowenischer Agent, der erlebt hat, wie Ausländer von serbischen Soldaten in die Hügel von Sarajevo gebracht wurden. Voller Aufregung hätten sie sich an Waffen postiert und auf Zivilisten geschossen. Und: Er ist bereit vor der Kamera zu sprechen. "Ich habe ihn gefragt, weshalb er überhaupt darüber spricht", erzählt Regisseur Zupanič im Gespräch mit dem MDR. "Seine Antwort war, dass es ihn belastet und dass er eine gewisse Verantwortung fühlt."

Ein Mosaik aus Zeugenaussagen

Die Filmemacher finden weitere Zeugen. Aus deren Aussagen entsteht der Dokumentarfilm Sarajevo Safari, der 2022 beim AJB Doc-Festival in Sarajevo Premiere feiert. Einer dieser Zeugen ist Edin Subašić, ein ehemaliger Offizier des bosnischen Geheimdienstes, der 1993 während eines Verhörs erstmals von den Menschenjagden hört: Ein junger Gefangener erzählt, dass er von Belgrad aus gemeinsam mit Ausländern nach Sarajevo reiste, die auf Zivilisten schießen wollten. Trotz fehlender Beweise erstattet er Meldung, sein Kommandant informiert daraufhin den italienischen Geheimdienst SISMI.

"Willkommen in der Hölle": Während der Belagerung von Sarajevo mussten Zivilisten auf der Straße damit rechnen, von Scharfschützen beschossen zu werden. (Bild: August 1993)Bildrechte: IMAGO/Dreamstime

Nach der Premiere von Sarajevo Safari 2022 wird vor allem regional über die Dokumentation berichtet. Zudem erklärt Michael Giffoni, ein italienischer Ex-Diplomat, dar damals in Sarajevo stationiert war, der Geheimdienst habe 1994 ihm gegenüber bestätigt, dass er diese Vorfälle untersucht und eine Anreiseroute der "Safari-Touristen" über Triest identifiziert und geschlossen habe. Und auch eine ältere Quelle erlangt neue Bekanntheit: Bereits 2007 hatte ein us-amerikanischer Zeuge vor dem internationalen Strafgerichtshof in Den Haag über "tourist shooters" ausgesagt, die am liebsten Kinder erschossen hätten.

Juristische Aufarbeitung?

Internationale Aufmerksamkeit erlangte Sarajevo Safari aber erst Anfang dieses Jahres, als der italienische Journalist Ezio Gavazzeni den Film sah und auf eigene Faust recherchierte. Er stieß nach eigenen Angaben auf die Namen mutmaßlicher Teilnehmer an den Menschen-Safaris, darunter auch Italiener, und erstattete Anfang Februar Anzeige in Mailand, woraufhin Staatsanwalt Alessandro Gobbis Ermittlungen einleitete. Ob diese Gavanezzis Recherchen bestätigen, ist unbekannt.

Auch die ehemalige Bürgermeisterin von Sarajevo, Benjamina Karić, hält die Vorwürfe, die Sarajevo Safari erhebt, für höchst plausibel und hat direkt nach Erscheinen des Films Anzeige gegen Unbekannt und die Armee der Republika Srpska erstattet. "Damit so etwas möglich war, musste eine gesamte Organisation dahinterstehen. Wie konnten Ausländer während der Belagerung nach Sarajevo gelangen? Wie gelangten sie an Waffen? Wer führte sie über das Gelände?", so die Juristin.

Benjamina Karić war von 2021 bis 2024 Bürgermeisterin von Sarajevo. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Die Ermittlungen in Italien haben ihr Hoffnung geben: "Dieser Fall hat weltweite Aufmerksamkeit erregt, weil so etwas bisher schlicht unvorstellbar war. Ich hoffe, dass das Interesse und der Druck, der jetzt entsteht, Antworten liefern wird." Sie hofft auch, dass das auch die Staatsanwaltschaft in Bosnien und Herzegowina, deren Ermittlungen bisher weitgehend ergebnislos waren, wachrüttelt. Denn am liebsten wäre es ihr, wenn der Fall vor bosnischen Gerichten verhandelt würde.

MDR (tvm)

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