Inhalt des Artikels:

  • Der Strippenzieher in Bulgariens Politik
  • Protest gegen Machtstrukturen
  • Der Traum von der intakten Zivilgesellschaft
  • Wie geht es weiter?

"Mafia" und "Rücktritt" rufen die überwiegend jungen Protestierenden im Stadtzentrum von Sofia, Plowdiw, Warna und Burgas. Woche für Woche versammeln sie sich in den weihnachtlich geschmückten Großstädten Bulgariens, weil sie sich vom ersten Euro-Staatshaushalt endlich Reformen für einen wirtschaftlichen Aufschwung in einem der ärmsten EU-Länder wünschten. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist das Land Schlusslicht innerhalb der Union, beim etwas aussagekräftigeren tatsächlichen individuellen Verbrauch (AIC) liegt es auf dem drittletzten Platz, vor Estland und Ungarn.

Doch statt Reformen bekamen sie höhere Abgaben für Bürger und Wirtschaft, während gleichzeitig die Bezüge vieler Staatsangestellter und Beamter steigen – und damit auch die Ausgaben für Verwaltung und Polizei. Der Haushalt war aber nur der Stein des Anstoßes. Schnell rückte das politische Modell ins Zentrum der Kritik, das viele in Bulgarien mit dem ehemaligen Langzeit-Premier Bojko Borissow und dem einflussreichen Unternehmer und Abgeordneten Deljan Peewski verbinden.

Der Strippenzieher in Bulgariens Politik

Bulgarien wird seit Januar 2025 von einem prowestlichen Koalitionskabinett regiert – bestehend aus Konservativen, Sozialisten und Populisten, die ideologisch kaum miteinander vereinbar sind. Nach sieben Parlamentswahlen in nur drei Jahren wurde es als Kompromisslösung gebildet. Diese Minderheitsregierung ist im Parlament auf die umstrittene Unterstützung einer vierten Partei angewiesen – der DPS von Parteichef Deljan Peewski.

Eine graue Eminenz in der bulgarischen Politik: Deljan Peewski.Bildrechte: picture alliance / NurPhoto | STR

Der von den USA und Großbritannien wegen Korruption sanktionierte Politiker galt jahrelang als die "graue Eminenz" in der bulgarischen Politik. Seine Partei war bei vielen Regierungsbildungen das Zünglein an der Waage. Peewski selbst hielt sich im Hintergrund, ließ sich als Abgeordneter im Parlament kaum blicken und gab keine Interviews, bis er mit den Koalitionsverhandlungen Anfang des Jahres aus dem Schatten heraustrat und immer arroganter und machtbewusster zu verstehen gab, dass die Regierung in Sofia allein von seinem Willen abhängt.

Protest gegen Machtstrukturen

"Vermutlich aus Peewskis Feder stammt der Haushaltsentwurf, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, aber uns geht es nicht mehr nur ums Geld, es geht um einen Systemwechsel", fasst der 20-jährige Danail Michajlow zusammen. Der angehende Werbedesigner ist mit seiner gleichaltrigen Freundin und der Schäferhündin Zara vors Parlamentsgebäude in Sofia gekommen. Peewskis Einfluss auf wichtige Institutionen gilt in Bulgarien als offenes Geheimnis: "Justiz und Polizei sind fest in Peewskis Händen. Wir haben jahrelang zugesehen, wie er seine Macht ausbaut und nichts dagegen getan", sagt selbstkritisch die Gymnasiallehrerin Emilia Petkowa, die gegen die Straflosigkeit von Oligarchen protestiert und zusammen mit ihren Schülern zur Demo gekommen ist.

Am Rande der Demonstrationen gegen den neuen Haushalt und vor allem die Korruption im Land kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei. Bildrechte: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited

"So geht es einfach nicht mehr weiter, dieses arrogante und kriminelle Netzwerk soll zerschlagen werden", wünscht sich ein junger Theaterschauspieler. Auf seinen Schultern trägt er seine zweijährige Tochter und in der rechten Hand ein Plakat, um gegen die chronische Unterfinanzierung von Bildung und Kultur zu protestieren. In der Nähe der beiden fallen ein Dutzend junge Frauen und Männer in weißen Kitteln auf. Es sind Medizinstudenten vor dem Abschluss, die überlegen, ob sie der Facharztausbildung in Bulgarien eine Chance geben sollen, oder doch lieber gleich ins Ausland gehen. "Von dieser politischen Elite erwarte ich keine vernünftige Gesundheitspolitik und deshalb soll sie einfach gehen", fordert die 25-jährige Maja Draganowa. Sollte der Protest scheitern, geht sie nach Deutschland, um dort als Hautärztin zu arbeiten.

Der Traum von der intakten Zivilgesellschaft

Wie Maja sind vor allem junge Erwachsene auf die Straße gegangen. Gerade im Alter zwischen 20 und 30 Jahren treten sie ins aktive Leben ein, haben den ersten Job und gründen eine eigene Familie. Sie spüren am eigenen Leib, wie teuer das Leben geworden sind, wie arrogant die Politik mit ihren Sorgen umgeht und wie korrupt die politische Elite ist. Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International liegt Bulgarien vor Schlusslicht Ungarn auf dem vorletzten Platz unter den EU-Mitgliedstaaten.

Plakate bei der Demonstration am 1. Dezember in Sofia: "Wie viele Lügen noch?", "Die Zukunft ist kein Geschäft", "Demokratie ist keine Diktatur", "Der Haushalt ist öffentlich, die Vorteile sind privat!" (von li. nach re.)Bildrechte: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Valentina Petrova

Viele der Protestierenden haben im westlichen Ausland studiert, dort in einer funktionierenden Demokratie mit einer intakten Zivilgesellschaft gelebt und sind zurückgekommen mit der Hoffnung und dem Ehrgeiz, das Leben in Bulgarien zu verbessern.

"Etwa in diesem Alter begreifen die Menschen, dass es an ihnen liegt, die Gesellschaft zu gestalten und dass sie dafür politisch aktiv sein müssen", erklärt Pawan Simeonow vom Meinungsforschungsinstitut "Mjara". Laut einer aktuellen Untersuchung glauben 80 Prozent der Befragten, dass die Demokratie in Bulgarien nicht funktioniert. Deshalb unterstützen zwei Drittel die Anti-Korruptions-Proteste und die Hälfte fordert den Rücktritt der Regierung. Ob die Massenproteste zur höheren Wahlbeteiligung führen, unabhängig davon, wann die nächsten Parlamentswahlen stattfinden, kann der Soziologe noch nicht einschätzen. Die Wahlbeteiligung bei den vielen Urnengängen der letzten drei Jahre betrug rund 30 Prozent.

Wie geht es weiter?

Die Regierung weigert sich zurückzutreten und begründet dies mit der Notwendigkeit politischer Stabilität, wenn am 1. Januar 2026 der Euro kommt. Ministerpräsident Rossen Scheljaskow gab Zugeständnisse im Haushalt bekannt und betonte, seine Regierung halte am proeuropäischen Kurs Bulgariens fest. Die explizite Erwähnung der außenpolitischen Ausrichtung seines Kabinetts ist der Rücktrittsforderung auch vonseiten der Rechtspopulisten von "Wazraschdane" (dt.: Wiedergeburt) geschuldet. Obwohl an Bulgariens Eintritt in die Eurozone nicht mehr zu rütteln ist, setzt sich die prorussische Wiedergeburtspartei weiterhin für ein Referendum zur Euro-Einführung ein und schloss sich mit dieser Forderung der Protestbewegung an. Noch sei es nicht abzusehen, ob die Regierung dem Druck der Straße standhalten wird, räumt Politikwissenschaftler Simeonow ein. Er sei allerdings sicher, dass die Regierenden insgeheim die Daumen drücken, dass die Proteste weitergehen. "Denn dann werden sie die Fesseln der umstrittenen Unterstützung vom verhassten Peewski sprengen können, ohne zurückzutreten", kommentiert Simeonow.

MDR (tvm)

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