Inhalt des Artikels:
- Ungarns Gesundheitswesen in EU-Rankings weit hinten
- Gesundheit: Priorität oder Belastung?
- Unpopuläre Reformen werden verschleppt
- Fidesz will andere Wahlkampfthemen setzen
- Gesundheit bei ungarischen Wahlen 2026 wichtiger
"Nach aktuellem Kenntnisstand ist der voraussichtliche Termin Ihrer Operation am 06.10.2028." Das teilte das örtliche Krankenhaus einem Patienten in der ungarischen Provinzstadt Kaposvár kürzlich mit. Auf Facebook geteilt rief diese Mitteilung jede Menge Kommentare hervor: darunter Wut über die Zustände im ungarischen Gesundheitssystem, Sarkasmus, aber auch Resignation.
Woran es im Gesundheitssystem hapert, hat auch der ungarische Oppositionsführer Péter Magyar im Blick. Im September absolvierte er eine Tour durch mehrere Budapester Krankenhäuser. Er lieferte Spenden ab, die seine Tisza Partei gesammelt hatte. Dabei handelte es sich allerdings nicht um teures Equipment, sondern um Reinigungsmittel und Toilettenpapier. Magyar machte so die zutiefst mangelhafte Ausstattung der ungarischen Krankenhäuser zu einem politischen Thema. Vor allem deshalb, weil Patienten immer wieder darüber klagen, dass es in den Kliniken an Grundlegendem mangelt.
Umfragen bescheinigen Péter Magyar und seiner Tisza-Partei einen Vorsprung vor Viktor Orbáns Fidesz-Partei.Bildrechte: IMAGO / NurPhotoPéter Takács, Staatssekretär für Gesundheit in der Fidesz-Regierung unter Viktor Orbán, spielte das Problem in einem Interview mit dem Nachrichtenportal Index dagegen herunter. Das Problem trete zwar auf, aber nicht häufig. Die Opposition betont hingegen, dass es sich um systematische Vernachlässigung handelt. Die Probleme des ungarischen Gesundheitssystems könnten ein Hauptthema im Wahlkampf für die Parlamentswahlen im April 2026 werden, zumindest macht die Tisza-Partei eine bessere Gesundheitsversorgung zu einem ihrer wichtigsten Wahlversprechen.
Ungarns Gesundheitswesen in EU-Rankings weit hinten
Die ungarische Regierung verweist darauf, dass der Ruf des ungarischen Gesundheitswesens schlechter sei als die Versorgung selbst. Verfügbare Daten legen aber das Gegenteil nahe. Sie zeigen zwar, dass in Ungarn weniger Menschen als im EU-Durchschnitt der Meinung sind, keine angemessene Gesundheitsversorgung zu erhalten. Doch viele Indikatoren zeichnen ein negatives Bild. Es gibt eine hohe Rate an vermeidbaren Todesfällen und solchen, die von einer Krebserkrankung verursacht werden. Auch bei den Gesundheitsausgaben sieht Ungarn im europäischen Vergleich schlecht aus: Einerseits ist der Anteil am Bruttoinlandsprodukt an den Gesundheitsausgaben sehr niedrig. Andererseits zahlen die Menschen in Ungarn viele Gesundheitsausgaben aus eigener Tasche.
Zahlen Gesundheitswesen Ungarn im Detail (bitte aufklappen)
So lag die Rate der vermeidbaren Todesfälle, also derer, die durch eine Behandlung oder durch Prävention verhinderbar wären, im Vor-Corona-Jahr 2019 in Ungarn fast doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt.
Auch die Krebssterblichkeit lag 2022 deutlich über dem EU-Durchschnitt, obwohl Krebserkrankungen als Todesursache im vergangenen Jahrzehnt zurückgegangen waren: Knapp 310 Todesfälle pro 100.000 Einwohner in Ungarn standen 2022 ein EU-Durchschnitt von 235 Toten gegenüber. In Deutschland lag die Krebs-Sterberate genau im EU-Mittel.
Die Probleme des ungarischen Gesundheitswesens sind seit langem bekannt. Dennoch liegt Ungarn laut Eurostat-Daten in der Union ganz hinten bei den Gesundheitsausgaben. Das Land gab nur 4,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für sein Gesundheitswesen aus, während der EU-Durchschnitt bei 7,3 Prozent lag.
Auf der anderen Seite zahlten die ungarischen Patienten vergleichsweise viel Geld aus eigener Tasche für Gesundheitsleistungen: vor allem für Medikamente und fachärztliche Behandlungen in der Privatversorgung. So kamen in Ungarn 2023 etwa 73 Prozent der Gesundheitsausgaben aus öffentlichen Kassen, im EU-Durchschnitt waren es etwa 81 Prozent, in Deutschland rund 86 Prozent.
Gesundheit: Priorität oder Belastung?
"Für die ungarische Regierung sind das Gesundheitswesen und ein gutes Niveau an öffentlichen Dienstleistungen im Allgemeinen nicht wichtig", kritisiert Balázs Rékassy im Gespräch mit dem MDR. Der Arzt, Gesundheitsökonom und Gesundheitsberater der Hauptstadt Budapest sagt, wichtiger seien der Fidesz-Regierung unter Orbán politische Kommunikation und ihr Machterhalt. Prioritäten lägen außerdem auf der Wirtschaft, etwa bei der Entwicklung der Batterie- oder der Automobilindustrie: "Die politische Führung Ungarns betrachtet Bildung, Sozialfürsorge und das Gesundheitswesen immer als Bereiche, die nur Geld kosten und weder Wähler noch Vorteile bringen."
Der Ökonom sagt, das könne man daran erkennen, dass Ungarn kein eigenes Gesundheitsministerium hat, sondern dieser Bereich dem Innenministerium untersteht. Gesundheit ist dort nur auf Staatssekretärsebene vertreten, was die Lobbykraft des Bereichs innerhalb der Regierung schwäche. Daher auch die im EU-Vergleich niedrigen Gesundheitsausgaben im Verhältnis zum BIP.
Unpopuläre Reformen werden verschleppt
Seit der politischen Wende vor über drei Jahrzehnten stehe auch die Umstrukturierung des ungarischen Gesundheitssystems aus, das zu krankenhauszentriert sei. Nach Ansicht des Gesundheitsexperten Rékassy liegen hier teilweise die Gründe für die Effizienzprobleme. Doch Rationalisierungsmaßnahmen wie die Schließung kleinerer Krankenhäuser anzustreben, würde keiner Partei Sympathiepunkte bringen. Die Bevölkerung wolle gerade auf die kleineren Krankenhäuser vor Ort nicht verzichten. Dabei plädiert Gesundheitsökonom Rékassy durchaus für eine stärkere Versorgung in der Fläche: "Mit geeigneten Präventionsmaßnahmen, einer angemessenen Grundversorgung und einem Hausarztsystem könnten viele Probleme vermieden werden", sagt der Ökonom.
Außerdem, so Rékassy, stärke die ungarische Regierung die Prävention nicht ausreichend: Es gibt keine wirksamen Kampagnen, die zur Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen aufrufen würden. Auch würden gesunde Lebensmittel zu hoch besteuert: So beträgt etwa die Mehrwertsteuer bei Obst und Gemüse 27 Prozent, während einige Grundnahrungsmittel wie Eier, Milch und viele Fleischsorten nur mit 5 Prozent und Milchprodukte sowie die meisten Backwaren mit 18 Prozent besteuert werden.
Fidesz will andere Wahlkampfthemen setzen
Doch welche Rolle spielen solche Themen in Ungarn traditionell in Wahlkämpfen? Im Mittelpunkt standen sie zuletzt nie. In den vergangenen fast 16 Jahren Fidesz-Regierung setzte die Partei auf Themen wie die "Gefahren der Migration", die Ablehnung von LGBTQ-Menschen und ihrer Rechte oder den Krieg in der Ukraine, aus dem sich Ungarn heraushalten müsse.
Politisch gesehen sind dies eindeutig "bequemere" Themen als das Gesundheitswesen, sagte der Politologe Gábor Győri dem MDR. Er ist Analyst beim Forschungsinstitut Policy Solutions, das sich den Werten der liberalen Demokratie verpflichtet fühlt: "Ich glaube, für die Regierung ist es wichtig, dass sie Themen in den Vordergrund stellt, bei denen sie von vielen Wählern als kompetent wahrgenommen wird. Und das sind eben diese großen Themen, die vielleicht weniger fühlbar sind im Alltag. Denn im Gegensatz zum Zustand der Krankenhäuser oder zu dem, was in den Klassenzimmern vor sich geht, ist die Frage nach 'Krieg oder nicht Krieg' viel abstrakter. Da ist die Leistung der Regierung weniger messbar."
Gesundheit bei ungarischen Wahlen 2026 wichtiger
Gábor Győri weist auch darauf hin, dass die Situation im Gesundheitswesen die Menschen in Ungarn immer mehr beunruhigt. Die Umfragen des Instituts zeigen, dass 58 Prozent der ungarischen Wähler denken, dass sich der Zustand des Gesundheitswesens verschlechtert habe. Selbst die relative Mehrheit der Fidesz-Wähler sind unzufrieden mit dem Gesundheitswesen.
Dieses Thema allein wird nach Ansicht des Politologen aber nicht über den Ausgang der Wahl entscheiden. Allerdings hat sich die gesellschaftliche und wirtschaftliche Stimmung in Ungarn verschlechtert und die Regierung wird von einer relativen Mehrheit der Bevölkerung negativ wahrgenommen. In dieser Situation könnte das Thema Gesundheitswesen für Wahlentscheidungen wichtiger werden.
MDR (baz/ voq/ usc)
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