In Syrien wurde erstmals seit dem Sturz Assads das Parlament gewählt. Mit Ergebnissen wird in den kommenden Tagen gerechnet. Wirkliche Macht hat das Parlament nicht - soll aber eine wichtige Aufgabe übernehmen.

Auf den Straßen in der syrischen Hauptstadt Damaskus sind die ersten Parlamentswahlen nach dem Sturz von Machthaber Assad Gesprächsthema. Sie hoffe auf gar nichts mehr, sagt eine Anwohnerin der Nachrichtenagentur Reuters. "Ich wünsche mir natürlich, dass es besser wird in Syrien, aber Hoffnung habe ich keine."

Es sei wichtig, dass Frauen im Parlament vertreten seien, sagt eine junge Frau dem syrischen Staatsfernsehen. Und ein Passant erklärt: "Ich wünsche mir, dass die Abgeordneten ihre persönlichen Interessen beiseitelegen, jegliche Vetternwirtschaft aufgeben und zum Wohle dieses Landes arbeiten."

Eine Wahl mit einem Haken

Aber ist das in Syrien möglich? Die sogenannte Wahl hatte einen entscheidenden Haken: Die breite syrische Bevölkerung durfte gar nicht abstimmen. Nur 6.000 ausgesuchte Wahlmänner und -frauen bestimmten, wer ins Parlament einziehen darf. Der syrische Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa räumte bei einem Besuch im Wahllokal selbst ein, dass das System nicht perfekt sei - aber ein erster Schritt.

"Syrien war innerhalb weniger Monate in der Lage, in einen Wahlprozess einzutreten", sagt er. "Obwohl dieser, wie jeder weiß, nicht vollständig ist. Aber die Wahl ist unter den aktuellen Umständen angemessen und entspricht auch der Übergangsphase."

Ernannte Wahlleute

Die Wahlleute waren im Vorfeld ernannt worden - religiöse Würdenträgen waren ebenso darunter wie ein bestimmter Anteil Frauen. Das Ziel offenbar: eine gewisse repräsentative Verteilung diverser syrischer Gruppen im Parlament.

Der islamistische Übergangspräsident al-Sharaa hat persönlich großen Einfluss auf den Ausgang der Wahlen. 70 Parlamentarier darf der Übergangspräsident selbst ernennen - nur zwei Drittel der 210 Abgeordneten werden durch die Wahlgremien bestimmt.

Parlament ohne Macht

Zudem hat das Parlament wenig Befugnisse: Entscheidungen des Präsidenten kann es nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit stoppen. "Dies wird, um es klar zu sagen, die Macht des Parlaments erheblich zugunsten der Exekutive reduzieren", sagt Yahiya Haj Naassan, syrischer Journalist aus der Türkei. "Denn das Parlament ist nicht für die Rechenschaftspflicht der Minister zuständig und kann sie nicht befragen, vielleicht kann es Ratschläge geben."

Der syrische Verfassungsrechtler Nassef Naeem sagt, das neue Parlament habe vor allem repräsentative Aufgaben. Es werde zwar mit dem neuen Parlament etwas mehr Debatten geben, aber die Entscheidung bleibe beim Präsidenten. "Der Präsident kann mit und ohne Parlament alles entscheiden." 

Nicht nur deswegen erntete al-Scharaa für diese sogenannte Wahl Kritik: Vor allem die Minderheiten des Landes fühlen sich übergangen, so wird beispielsweise in den Kurdengebieten und in Suwaida bei den Drusen nicht gewählt. Der Übergangspräsident argumentiert, dass Syrien nach mehr als einem Jahrzehnt Krieg noch nicht bereit für freie Wahlen sei.

"Es herrscht Wehmut in den Herzen"

Auch, wenn viele gerne gewählt hätten, sagt der syrische Exiljournalist Ahmed Al Massalmeh. "Es herrscht Wehmut in den Herzen der Syrer, weil sie an diesen Wahlen nicht teilnehmen können", sagt er. Doch der Staat sei nicht in der Lage gewesen, innerhalb von zehn Monaten alle Syrer zu registrieren und neue Ausweise auszustellen. "Viele besitzen keine Ausweispapiere und auch die Infrastruktur macht eine allgemeine Wahl momentan unmöglich."

Und so bleibt den Syrerinnen und Syrern nur, auf den weiteren Prozess der Staatsbildung zu hoffen - denn eine wichtige Aufgabe soll das neue Parlament bekommen: Es wird die neue syrische Verfassung vorbereiten - damit irgendwann später mal vielleicht wirklich freie Wahlen in Syrien möglich sind.

Anna Osius, ARD Kairo, tagesschau, 05.10.2025 20:15 Uhr

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