Erstmals seit dem Sturz des Assad-Regimes wird in Syrien das Parlament neu gewählt - doch es gibt viel Kritik an dem Verfahren. Wie repräsentativ ist die Wahl? Und welche Bedeutung hat sie? Fragen und Antworten.
Wie ist die Ausgangslage?
Syrien mit seinen rund 23 Millionen Einwohnern wird derzeit von einer Übergangsregierung unter Führung von Interimspräsident Ahmad Al-Scharaa geführt. Al-Scharaa war der Kopf der Islamistengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS), die die Rebellenallianz anführte, die Machthaber Baschar al-Assad Anfang Dezember stürzte und damit die mehr als fünf Jahrzehnte andauernde Herrschaft der Assad-Familie beendete. Die heutige Parlamentswahl ist die erste seit dem Umbruch.
Wie wird gewählt?
Es handelt sich um keine allgemeine Wahl, bei der alle Bürger abstimmen können, sondern um einen komplizierten Prozess in mehreren Stufen: Das "Oberste Wahlkomitee" der Übergangsregierung hat im Juni regionale Wahlgremien bestimmt, die im Anschluss Wahlleute aus einem Bewerberpool ausgewählt haben. Diese Wahlleute wählen heute schließlich die Parlamentarier aus ihren eigenen Reihen.
Für die Auswahl der Wahlleute wurden bestimmte Kriterien zur Voraussetzung gemacht. Dazu zählt unter anderem auch, dass 20 Prozent von ihnen weiblich sein sollen. Auch Vertriebene und Menschen mit Beeinträchtigungen sollen vertreten sein. Neben Akademikern müssen auch sogenannte traditionelle Würdenträger - wie etwa Stammesführer - vertreten sein. Anhänger der Assad-Regierung wurden nicht zugelassen.
Insgesamt sind rund 6.500 Wahlleute beteiligt, davon wurden 1.578 als Kandidaten zugelassen. Nach Behördenangaben sind 14 Prozent der Bewerber um einen Sitz im Parlament Frauen. Für die Repräsentation von Frauen oder etwa Minderheiten im Parlament wurden keine Quoten gesetzt. Mit Ergebnissen wird am Montag oder Dienstag gerechnet.
Was sind Kritikpunkte?
Das Verfahren wurde vielfach kritisiert. Kritiker bemängeln, die teilweise und indirekte Wahl sei nicht repräsentativ und werde zu zentral gesteuert. Das Verfahren sei von persönlichen Interessen geleitet und befeuere Vetternwirtschaft, hieß es aus der Bevölkerung.
Im neuen Parlament sollen 210 Abgeordnete sitzen. Allein ein Drittel davon soll von Präsident al-Scharaa selbst bestimmt werden. Durch das von der Übergangsregierung festgelegte Verfahren befürchten Beobachter, das sich - wie unter dem Assad-Regime - auch das neue Parlament zum Großteil aus Regierungstreuen zusammensetzen könnte.
Menschenrechtsorganisationen warnen daher vor der Machtkonzentration in den Händen von al-Scharaa. Dieser könne "effektiv eine parlamentarische Mehrheit aus Personen bilden, die er ausgewählt hat oder deren Loyalität er sich gesichert hat", erklärten rund ein Dutzend NGOs im September. Das berge die Gefahr, "das für jeden echten demokratischen Prozess wesentliche Prinzip des Pluralismus zu untergraben".
Die Übergangsregierung ihrerseits verweist als Begründung für ihr Vorgehen auf die Millionen Binnenflüchtlinge und Vertriebenen, von denen viele keine gültigen Ausweispapiere besitzen. Zudem sind große Teile des Landes verwüstet, Treibstoff und Strom knapp, ganze Städte zerstört. Unter diesen Bedingungen sei eine landesweite Abstimmung nicht durchführbar.
Wie repräsentativ ist die Wahl?
Der fast 14-jährige Bürgerkrieg in Syrien hat das Land tief gespalten. Aus Sicherheitsgründen, wie es von den Behörden hieß, wurde die Wahl in mehreren Provinzen verschoben. In der südlichen Provinz Suwaida sowie in Teilen der nordöstlichen Provinzen Hasaka und Rakka solle sie zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden. Wie diese Gebiete im neuen Parlament vertreten werden, bleibt abzuwarten.
Die Provinzen Hasaka und Rakka stehen unter der Kontrolle der kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). In Suwaida in Südsyrien ist die drusische Gemeinde beheimatet. Die Beziehungen der Kurden und auch der Drusen zur syrischen Regierung sind angespannt. Erst im Juli kam es in Suwaida zu tödlichen Auseinandersetzungen zwischen drusischen Milizen und sunnitischen Stammesgruppen, die von der Regierung in Damaskus unterstützt wurden.
"Die bevorstehenden Wahlen lassen keine Anzeichen für einen echten Wandel in Syrien erwarten", sagte der SDF-Sprecher Farhad al-Schami der Nachrichtenagentur dpa. Das Vertrauen der Kurden in die neuen Machthaber sei gering.
Wie blickt die Bevölkerung auf die Abstimmung?
Die Gefühle in der Bevölkerung sind gemischt. Nach Jahrzehnten einer autoritären Herrschaft hoffen viele auf einen ersten Schritt in Richtung Demokratie. Andere üben Kritik. Das Wahlsystem basiere nicht auf Kompetenz, sondern auf persönlichen Kalkülen, sagte etwa ein Anwohner in Aleppo der Nachrichtenagentur dpa. "Wir haben uns von der Einheitsliste der Baath-Partei befreit, nur um nun einer Kleingruppen-Politik zu verfallen". Weitere befürchten, Syriens Politik könnte ähnlich wie zuvor von Rivalitäten untereinander geprägt sein, bei denen qualifizierte Kandidaten ausgeschlossen würden, nur weil sie den falschen Gruppen angehörten.
Welche Bedeutung hat die Wahl?
Trotz aller Mängel sehen Experten die Wahl als notwendigen Zwischenschritt nach mehr als einem Jahrzehnt Bürgerkrieg. International wird der Prozess - insbesondere mit Blick auf die Repräsentanz von Minderheiten - genau beobachtet. Ob in Syrien nun ein langfristig demokratischer Wandel in Gang gesetzt werden kann, hängt jedoch vor allem von künftigen Reformen und möglichen anschließenden freien Direktwahlen ab.
Mit Material von der dpa
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