Inhalt des Artikels:
- Russlands Bevölkerung schrumpft
- Kuriose Initiativen sollen Geburtenrate ankurbeln
- Prämien für schwangere Studentinnen
- Kampf gegen Schwangerschaftsabbrüche
Russlands Bevölkerung schrumpft
Nina Ostanina ist deprimiert, denn Russlands Bevölkerung schrumpfe in einem "katastrophalen Tempo", wie sie sagt. "Minus 600.000 Menschen voriges Jahr und minus 3,5 Millionen in den letzten fünf Jahren", klagte Ostanina in einem Radiointerview. Dabei bräuchte ihr Land, so glaubt sie, deutlich mehr Einwohner, um sein Potential voll ausschöpfen zu können: "Wir sind ein riesiges Land mit riesigen Ressourcen. Um es zu entwickeln, brauchen wir eine Bevölkerung von mindestens 200 Millionen."

Ostanina sitzt für die Kommunistische Partei in der Duma und ist Vorsitzende des Familienausschusses. 2022 hat sie das sogenannte Gesetz zum Verbot von Propaganda gegen "traditionelle Familienwerte" mitinitiiert, denn sie glaubt, die Ursache für den Einwohnerschwund Russlands ausgemacht zu haben: eine Ideologie der Kinderlosigkeit. Folglich will sie die Geburtenrate ankurbeln und Familien mit Kindern aufwerten – nach einem ganz konkreten Vorbild aus dem Zweiten Weltkrieg: "Stalin hat ein Dekret erlassen, das Müttern mit vielen Kindern den Titel einer Heldin verlieh. Die Leistung der Mutter wurde mit dem Heldentum eines Kämpfers auf dem Schlachtfeld gleichgesetzt."
Wir sind ein riesiges Land mit riesigen Ressourcen. Um es zu entwickeln, brauchen wir eine Bevölkerung von mindestens 200 Millionen.
Dabei blendet sie aus, dass es neben der niedrigen Geburtenrate noch andere Gründe für den Bevölkerungsrückgang gibt – etwa die hohe Sterblichkeit. In Sachen Lebenserwartung rangiert Russland auf dem Niveau der Entwicklungsländer. Im Jahr 2024 kam es im Lebenserwartungsranking der Vereinten Nationen auf Platz 139 kurz vor Honduras, mit einem Durchschnittsalter von 73 – in Monaco lag dieses zum Vergleich bei 86,5! Besonders bei Männern sind die Zahlen erschreckend, und das nicht erst seit dem Ukraine-Krieg – sie sterben im Schnitt zwölf Jahre früher als Frauen, und 52 Prozent erreichen nicht das Alter von 65. Die Gründe: Alkoholismus, Rauchen, viele Unfälle.

Kuriose Initiativen sollen Geburtenrate ankurbeln
Doch das hält Politiker wie die Ostanina nicht davon ab, sich einzig und allein auf die Geburtenrate der Russinnen einzuschießen, die derzeit bei nur noch 1,43 Kindern liegt. "Auf nationaler und regionaler Ebene gibt es ständig Initiativen, die sich durch unterschiedliche Mengen an Wahnsinn auszeichnen", bemerkt spöttisch der regierungskritische Blogger Ilja Warlamow. Als Beispiel nennt er einen Stadtrat in Tarussa bei Moskau, der die Mädchen dazu aufgerufen habe, öfter kurze Röcke zu tragen. Oder den Bürgermeister des südrussischen Newinnomyssk, Michail Minenkow, der sich kürzlich in einem Video fast flehend an seine männlichen Mitbürger wandte: "Schleicht Euch doch heute Abend an Eure Liebste heran und dann haben wir nach neun Monaten am Jahresende nicht 700 Neugeborene, sondern 10.000."
Abgeordnete bringen regelmäßig neue Initiativen auf den Weg, die ihrer Meinung nach die Geburtenrate im Land erhöhen könnten. So wurde beispielsweise am 14. April 2025 in der Staatsduma vorgeschlagen, den Arbeitstag für Frauen zu verkürzen, damit sie abends nicht müde seien. "Es geht um die Frage der Steigerung der Geburtenrate, aber wann soll eine junge Frau Zeit haben, ihr Privatleben aufzubauen, wenn sie den ganzen Tag bei der Arbeit verbringt und dann müde nach Hause fährt?", erklärte der Urheber der Idee, der Abgeordnete Igor Antropenko.

Das Exil-Onlineportal Meduza zählt weitere Vorschläge von Abgeordneten und Ministern auf: sonntags keinen Alkohol verkaufen – dem Familienfrieden zuliebe; in der Werbung nur kinderreiche Familien zeigen; Bischöfe dazu verpflichten, das vierte Kind in einer Familie zu taufen; eine Lotterie für Neugeborene, deren Eltern Autos oder Wohnungen gewinnen können; eine Neugeborenenquote, die die Mitarbeiter von Firmen erfüllen müssen; mehr Schuldiscos, um Teenager-Schwangerschaften zu fördern; Stipendien und Zusatzpunkte bei Prüfungen für Studentinnen mit Kindern.
Prämien für schwangere Studentinnen
Vieles davon klingt bizarr. Doch die Geburtenrate ist offenbar zur Chefsache geworden. So wurde Präsident Putin im Fernsehen mit einem Mischka-Teddy vor einem Kinderzimmer gezeigt. Lokalpolitiker und Gouverneure werden persönlich für die Neugeborenenzahl verantwortlich gemacht. So versuchen die ärmeren Regionen wenigstens mit Plakaten fürs Kinderkriegen zu werben, während die reicheren tiefer in die Tasche greifen und Strampler und Kindernahrung verteilen.

Wohin es im Idealfall gehen soll, erklärt Professor Igor Kogan vom Lehrstuhl für Geburtshilfe der Universität Sankt Petersburg im Internet: "Im Durchschnitt beginnt das Sexualleben mit 16, aber das erste Kind bekommen sie erst mit 30. Dieser Zeitraum muss verkürzt werden. Im Idealfall sollen sie beim ersten Sex schwanger werden und erfolgreich gebären."
Im Idealfall sollen sie beim ersten Sex schwanger werden und erfolgreich gebären
Passend zu dieser Vorstellung gibt es in rund der Hälfte der russischen Regionen bereits besondere Prämien für schwangere Studentinnen und zunehmend auch für Schülerinnen: 100.000 Rubel pro Schwangerschaft, umgerechnet rund 1.000 Euro. Einer Umfrage der Zeitung "Moskowskij Komsomolez" zufolge glauben 42 Prozent der Russen, dass die Prämie die gewünschte Wirkung entfalten könnte. Eine junge Frau aus Südrussland ist in den sozialen Medien aber skeptisch: "Ich denke nicht, dass es hilft. Das ist doch eine einmalige Aktion. Und was mache ich danach?"
Der regierungskritische Politiker Lew Schlossberg findet noch deutlichere Worte: "Ich denke, es ist eine echte Tragödie, dass unerfahrene, nicht aufgeklärte und unvorsichtige Kinder vom Staat ausgenutzt werden, um die demografische Statistik zu verbessern. Man darf nicht die Naivität der Kinder ausnutzen! Man darf nicht die Sexualität der Teenager ausnutzen!", sagte er empört in einem Radiointerview. Das einzige sinnvolle Rezept für mehr Geburten seien Frieden und niedrigere Steuern. Momentan seien die Zukunftsaussichten in Russland einfach zu ungewiss.

Bloggerin Xenia Kagarlizkaja sieht das ähnlich: "Die Geburtenrate kann man durch sozialen Wohlstand erhöhen und dadurch, dass die Menschen an ihre Zukunft glauben. Aber wenn Schülerinnen 100.000 Rubel für eine Schwangerschaft bekommen, ist das schrecklich." Maßnahmen wie diese bezeichnet sie als "absolut verbrecherisch".
Kampf gegen Schwangerschaftsabbrüche
Um die Geburtenrate in Russland anzukurbeln, haben Politiker auch die Schwangerschaftsabbrüche ins Visier genommen. Manche fordern ein generelles Abtreibungsverbot, wie es das ab 1936 unter Stalin gab (mit Ausnahme von medizinischen Gründen, die eine Gefahr für die Gesundheit der Mutter darstellten). Das Verbot führte zu einem kurzfristigen Anstieg der Geburtenziffern, aber auch zu einer Zunahme von Sterbefällen – Jahr für Jahr starben einige Hundert Frauen an den Folgen stümperhaft und unhygienisch durchgeführter Abtreibungen.

Anna Riwina leitet ein Zentrum gegen häusliche Gewalt und erklärt online: "Wir wissen, dass auf nationaler Ebene über ein Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen diskutiert wird, aber auch regional wird bereits vieles getan, was den Ärzten immer mehr die Hände bindet." So melden Betroffene aus der "Ölhauptstadt Russlands" Surgut in Westsibirien (400.000 Einwohner) beispielsweise, dass sie nur ohne Narkose abtreiben durften.
Da erscheint der Vorschlag des Duma-Abgeordneten Sultan Chamsajew fast schon großzügig: Frauen, die ungewollt schwanger geworden sind und abtreiben wollen, sollen dafür bezahlt werden, dass sie das Kind doch noch zur Welt bringen und danach dem Staat zur Erziehung übergeben. Kinder fürs russische Vaterland – um jeden Preis.
MDR (baz)
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