Inhalt des Artikels:
- Unabhängigkeit von Russland mit Russlands Hilfe?
- Geopolitische Strategie statt Marktlogik
- Rolle Russlands beim Uranabbau
- Urananreicherung vor allem in Russland
- Neue russische Reaktoren – neue Abhängigkeiten
- Atomdeals mit Russland als Gefahr
In der norddeutschen Stadt Lingen gibt es in letzter Zeit häufiger Proteste. Sie richten sich gegen eine geplante Kooperation mit dem russischen Staatskonzern Rosatom, sagt Alex Vent von der Bürgerinitiative Agiel (Atomkraftgegner im Emsland).

Schon zu Sowjetzeiten setzte Moskau Atomenergie als politisches Mittel ein. Es verkaufte in seine Bruderstaaten Atomkraftwerke (AKW), die nur mit sowjetischen Brennstäben funktionierten. Einige heutige EU-Länder, darunter besonders Ungarn und die Slowakei, gelten deshalb heute als hochgradig abhängig von Rosatom.
Unabhängigkeit von Russland mit Russlands Hilfe?
Die EU will diese Abhängigkeit verringern und fördert westliche Hersteller bei der Entwicklung eigener Brennstäbe, die auch in AKW russischer Bauart funktionieren. Einer dieser Hersteller ist Advanced Nuclear Fuels (ANF) in Lingen, eine Tochter des französischen Konzerns Framatome. Statt selbst zu entwickeln, plant Framatome jedoch ein Joint-Venture mit Rosatom – eine schnellere und günstigere Lösung für AKW-Betreiber. So soll gerade Rosatom helfen, die EU unabhängiger von Russland zu machen.
Viel mehr als dass auch russische Mitarbeiter nach Lingen kommen sollen, ist von ANF, Framatome und Rosatom nicht zu erfahren. Alle drei Unternehmen lehnten eine Stellungnahme zu den Plänen ab.
Wie die Alex Vent so warnt auch ein Gutachten im Auftrag der Bundesregierung in Zeiten von Spionage und Sabotage vor sicherheitsrelevanten Risiken. Während Frankreich die Kooperation Framatomes und Rosatoms in Lingen duldet, hat die Bundesregierung noch nicht entschieden, ob sie genehmigt wird. Die EU hat den Handel mit Brennelementen im Gegensatz zu anderen Gütern bislang nicht sanktioniert.
Geopolitische Strategie statt Marktlogik
Der Fall Lingen steht exemplarisch für ein größeres Muster: Während der Westen Atomkraft als Wirtschaftsthema begreift – geprägt von Wettbewerbsregeln, Kostendruck und Effizienz – behandelt Russland sie als geopolitisches Instrument.

Rosatom untersteht direkt der Präsidialverwaltung in Moskau, erhält Milliarden aus dem Staatshaushalt und ist sowohl für zivile als auch militärische Nuklearprojekte zuständig. Der Ukrainer Kostyantyn Batozsky hat von 2005 bis zur russischen Krim-Annexion 2014 im Rosatom-Management gearbeitet. Er nennt Rosatom "einen Staat im Staat" – mit dem Ziel, andere Länder durch Atomgeschäfte langfristig an Russland zu binden. "Sie tun nur so, als ginge es ums Geschäft", sagt Batozsky. "In Wahrheit sehen sie Atomkraftwerke als Festungen, von denen aus sie ihren Einfluss ausweiten können."
Rolle Russlands beim Uranabbau
Wie groß die Abhängigkeit vom russischen Staatskonzern ist, zeigen neben den Brennelementen vor allem drei weitere Punkte. Einer betrifft den Rohstoff Uran.
Die größten Uranreserven der Welt liegen mit 28 Prozent in Australien. Russland hingegen verfügt nur über acht Prozent der Uranvorkommen. "Trotzdem wollen sie das Monopol, und wenn nicht das Monopol, wollen sie zumindest Hauptlieferant auf dem Weltmarkt sein – für Roh-Uran und angereichertes Uran", so Batozsky. Um dieses Ziel zu erreichen, kauft Rosatoms Tochterfirma Uraniumone Anteile an Uranminen weltweit. Wichtigstes Land dabei: Kasachstan. 2023 lieferte der Staat rund 43 Prozent des global gehandelten Urans, weil der Abbau hier einfacher und günstiger als etwa in Australien ist. Durch Beteiligungen in Kasachstan ist Uraniumone mittlerweile weltweit der zweitgrößte Lieferant von Rohuran.
Ein weiterer Knackpunkt: Der Transport. Selbst das Uran aus den kasachischen Minen mit westlicher Beteiligung wird oft über Russland nach Europa transportiert – etwa über St. Petersburg. Experten befürchten, dass Russland den Transport stoppen könnte, wenn dies in seinem Interesse liegt.
Urananreicherung vor allem in Russland
Damit Uran als Brennstoff genutzt werden kann, muss es angereichert werden. 46 Prozent der weltweiten Kapazitäten dazu liegen bei Rosatom. Lange Zeit waren die USA der größte Produzent von angereichertem Uran, doch nach dem Kalten Krieg wurde der Markt aufgegeben. Ein Grund: Der "Megatons-to-Megawatts"-Deal zwischen den USA und Russland. Zustandegekommen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, sah das Abkommen vor, Uran aus sowjetischen Atombomben zu nehmen und in amerikanischen AKW zu verwenden. Über 30 Jahre lief das Programm und zwischenzeitlich kamen zehn Prozent des Strommixes in den USA aus ehemals sowjetischen Atombomben.

Unerwünschte Nebeneffekte dieses Abrüstungsdeals: Die USA legten beinah alle Anreicherungsfabriken still, während Russland Kapazitäten aufbaute und durch günstige Preise den Weltmarkt erschließen konnte. Mittlerweile haben die USA ihre Abhängigkeit erkannt. Gemeinsam mit Japan, Frankreich, Großbritannien und Kanada haben sie sich zur Sapporo-5-Gruppe zusammengetan. Unter anderem planen sie, ihre Anreicherungskapazitäten mit insgesamt 4,2 Milliarden US-Dollar auszubauen. Der Marktanteil des französischen Unternehmens Orano soll sich damit von 12 auf 15,4 Prozent erhöhen. Der Anteil der europäisch-amerikanischen Unternehmensgruppe Urenco von 30 auf 31 Prozent. Doch um Rosatoms angereichertes Uran in Zukunft zu ersetzen, reicht diese Milliardeninvestition nicht aus.
Neue russische Reaktoren – neue Abhängigkeiten
Und in noch einem Bereich liegt Russland vorn: Während westliche Länder nur zögerlich neue AKW bauen, ist Rosatom weltweit aktiv: 42 Reaktoren in 16 Ländern sind geplant oder im Bau. In der Türkei etwa errichtet Rosatom in Akkuyu am Mittelmeer vier Reaktoren – vollständig finanziert vom russischen Staat. Das Kraftwerk gehört Russland, liegt aber auf Nato-Gebiet. "Das ist ein strategischer Fehler", warnt der türkische Lokalpolitiker und Kritiker des AKW-Projekts Alpay Antmen. "Wir haben Russland ein Stück Infrastruktur überlassen – mit direktem Zugang zum Mittelmeer."
Diese Verflechtungen sind fragwürdig – gerade in einer Zeit, in der Energiepolitik auch Sicherheitspolitik ist. Denn wer mit Rosatom kooperiert, könnte sich erpressbar machen. Darauf weist unter anderem Darya Dolzikova hin. Sie beschäftigt sich bei der britischen Denkfabrik Rusi-Institut mit strategischen Aspekten ziviler Nukleartechnologie. Die Nuklearindustrie in den USA und Europa ist stark von Russland abhängig, sagt sie. "Deshalb ist es so schwer, Russland aus westlichen Lieferketten zu entfernen, weil sie so verflochten sind."
Atomdeals mit Russland als Gefahr
Trotz Ukrainekrieg, Sanktionen und geopolitischer Spannungen steigen die Gewinne von Rosatom im Ausland weiter. Auch 2024 laufen Uranimporte aus Russland nach Europa und werden beispielsweise in Frankreich und Deutschland weiterverarbeitet. Der französische Präsident Emmanuel Macron bezieht zwar Position gegen Putins Krieg gegen die Ukraine, gleichzeitig liefern aber französische Staatskonzerne Turbinen und Schalttechnik für russische AKW-Baustellen weltweit.
Russland hat längst verstanden, dass Atomkraft ein Machtfaktor ist. Der norwegische Wissenschaftler Kacpar Szuleki hat die geopolitischen Ziele Rosatoms näher untersucht und stellt deshalb die Renaissance der Nuklearenergie in Frage: "Wenn wir wirklich darüber nachdenken, die Atomenergie weltweit auszubauen, dann müssen wir verstehen, dass Russland Teil des Bildes ist. Finden wir das gut? Finden wir das nicht gut? Das ist eine Frage, die wir uns stellen müssen."
Auch in Lingen ist man sich unschlüssig. Das Ringen um die Brennelemente-Fabrik geht weiter. Doch Alexander Vent und die Bürgerinitiative sind überzeugt: Für den Westen sind Geschäfte mit Rosatom ein gefährliches Spiel.
Um die Rolle des russischen Staatskonzerns Rosatom bei der weltweiten Renaissance der Atomkraft geht es in der Doku "Die Nuklearfalle – Putins Deals mit dem Westen", eine MDR-Produktion für Arte.
MDR (usc, baz)
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