„Aber im Grunde dreht sich doch alles nur um die eine einzige Frage“, sagt der Millionenerbe und Lebemann Pierre Besuchow. „Warum? Warum dieser Krieg?“ Ursachenforschung ist angesagt, und man kann den monumentalen Roman „Krieg und Frieden“ als literarischen Beitrag dazu verstehen, der dabei bis zu den „Ursachen der Ursachen“ vordringen will.

Besuchow ist einer von Tolstois Helden oder eher Antihelden (seine Frau bescheinigt ihm „die Ausstrahlung eines nassen Novembertages“), denen man auf Hunderten Seiten durch die Wirren der Napoleonischen Kriege 1805 bis 1812 folgt, von der Schlacht von Austerlitz bis zu der bei Borodino. Was daran bis heute interessiert, ist nicht die historische Akribie, sondern diese Frage nach dem Warum.

Der Schauspieler Charly Hübner, unvergessen als raubeiniger Kommissar Bukow im Rostocker „Polizeiruf“, hat sich nun ausgerechnet „Krieg und Frieden“ für sein Debüt als Theaterregisseur am Theater Magdeburg ausgesucht, nachdem er bereits bei zwei Dokumentarfilmen und dem Spielfilm „Sophia, der Tod und ich“ Regie führte. Und nun einer der größten Romane der Weltliteratur über die Menschheitsfrage von Krieg und Frieden. Ging’s nicht eine Nummer kleiner? Zum Glück nicht. Es ist, als würde Hübner das großartige Ensemble durch die Stoffmassen tanzen lassen, so leichtfüßig ist die Inszenierung bei allem inhaltlichen Gewicht gelungen. Nach knapp über vier Stunden dürfen sich die zehn Schauspieler für ihren Kraftakt vom Publikum feiern lassen.

Unter Hübners Regie greift „Krieg und Frieden“ ins Zeitlose aus. Die Handlung tritt in den Hintergrund, man erspäht Konstellationen und körpergewordene Haltungen, die ins Künstlerische vergrößert werden. Der Fürst predigt von den Vorzügen von Drill und Disziplin, der Diener buckelt. Und ob man nun einen Ball besucht, Liebeshändel betreibt oder auf Französisch parliert, alles folgt einem strengen Protokoll, dessen Vorbild das Militärische ist – inklusive der alkoholischen Exzesse, die der Moral der Truppe dienlich sind. Eine Kultur von Ehre und Gehorsam, bei der noch zum Duell mit der Waffe gefordert wird, wo die soziale Konvention verletzt scheint. So hat die von Alexandre Corazzola leergeräumte Bühne trotz bunter Beleuchtung etwas von einem Exerzierplatz und auch die farbenfrohen Kostüme von Clemens Leander kippen ins Uniformierte.

So harmlos und fröhlich es wirkt, wenn das Ensemble zu der Hippiehymne „Lucy in the Sky with Diamonds“ von The Beatles im Kreis tanzt und den Frieden von Tilsit zwischen Napoleon Bonaparte und dem Zaren Alexander feiert, so scharf ist der Kontrast zu den düsteren chorischen Passagen, in denen die Schlacht bei Borodino – die als grausamste des frühen 19. Jahrhunderts gilt – als „ein ununterbrochenes Morden“ geschildert wird. Auch Besuchow ergreift das reine Entsetzen, als er einer Hinrichtung zuschauen muss und weiß auch hier nicht, warum das alles. Hübner bleibt bei seiner puristischen Linie und illustriert nicht mit aus Film oder Medien bekannten Bildern, sondern lässt das literarische Wort auf der Bühne wirken. Und siehe da, es wirkt – eindringlich und uneitel.

Und was ist mit der Ursachenforschung? Auch hier verzichtet Hübner auf Agitprop, leiht aber persönlich Tolstoi seine Stimme für dessen „Rede gegen den Krieg“ von 1909, die nach der Pause aus einem kleinen Kofferradio ertönt. Es ist ein flammendes Plädoyer für eine Welt ohne Kriege, ganz im Sinne von Kants „Zum ewigen Frieden“. Ist das möglich – und wie? Wo der Philosoph praktische Vorschläge (wie die Abschaffung von Armeen) hat, bleibt der Schriftsteller im Ungefähren – mit dem Trost, dass diese Utopie für die Menschen „jedenfalls nicht schlimmer wird, als das Leben, das sie jetzt führen“, wenn sie nur aufhören, sich „knechtisch denen zu unterwerfen, die das gegenseitige Töten anordnen“. Im Stück, bei dem jungen Soldaten Anatol, klingt es weit resignativer: „Das Geld kommt immer zurück“, sagt er, „aber die Menschen kommen nie mehr zurück.“

Für Anfang und Ende haben sich Hübner und sein Dramaturg Bastian Lomsché etwas Besonderes einfallen lassen: Die von dem bekannten Dramatiker und Autor Roland Schimmelpfennig vor einigen Jahren für Jürgen Gosch erstellte Fassung von „Krieg und Frieden“, in Magdeburg uraufgeführt, wird von einer slapstickhaften Familienszene aus der Jetztzeit gerahmt. Dabei geht es um die „Zeitenwende“, das „Sondervermögen Bundeswehr“ und die Brigade Litauen, um Rechts-Links-Verwirrungen, die Antifa, den Osten, Genitiv und Genozid – und die ungeklärte Frage, ob man den russischen Zupfkuchen eigentlich noch so nennen darf. Es ist ein unaufdringlicher, aber nicht unernster Hinweis darauf, dass die Frage nach Krieg oder Frieden heute wieder zur gesellschaftlichen Zerreißprobe geworden ist, wie die eskalierende Familienfeier zeigt.

Szenen wie in der Rahmenhandlung dürften dem Publikum nicht unbekannt sein, auch wenn es solche politisch nicht ganz korrekten Gegenwartsbefragungen leider eher selten auf die Theaterbühne schaffen. So wagt sich „Krieg und Frieden“ mutig wie in Hunderte Seiten Tolstoi auch in den Schlachtennebel der Gegenwartsdebatten.

„Schießen ist jetzt woke, Frieden ist jetzt rechts“, heißt es in einer der Rap-Einlagen, die Hendrik Bolz (Zugezogen Maskulin) und Johannes Aue (Milliarden) für die Inszenierung beigetragen haben. Am Ende scheint es zumindest so, als könnte die Befriedung des Familienkriegs gelingen: Grillen und Chillen statt Kriege und Siege. Ein kluger, ein gewichtiger, ein großer Abend für das Theater Magdeburg und darüber hinaus.

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