Hans Neuendorf ist der Digitalpionier des Kunstmarkts. 1989, also noch vor dem Internet, gründete er mit Artnet die weltweit erste virtuelle Plattform für Kunst – eine Mischung aus Preisdatenbank, Galerienetzwerk und Online-Magazin. 1999 ging Artnet an die Börse, 2012 wurde Neuendorfs Sohn Jacob Pabst CEO. Aber Anteilseigner sahen beide dann als lähmende Faktoren bei der explosiven Digitalisierung des Kunstmarkts. Am Dienstag wurde Artnet für 64 Millionen Euro an den britischen Shareholder, Investor und Kunstsammler Andrew Wolff von Beowolff Capital verkauft.
Mit dieser Privatisierung wird Artnet wieder handlungsfähig – denn seit über sechs Jahren blockierten sich die Familie Neuendorf und ein weiterer Aktionär, der Kunsthändler Rüdiger Weng, gegenseitig und damit die Firma selbst: Weng hielt 29,99 Prozent der Aktien und versuchte immer wieder, den Einfluss der Familie einzudämmen (beide besaßen die Sperrminorität). Nun übertrug er seine Anteile an den ehemaligen Banker von Goldman Sachs, der im Februar Anteile der Gründerfamilie gekauft hatte und jetzt 65 Prozent besitzt.
Für den Anwalt Pascal Decker, Aufsichtsratsvorsitzender der Artnet AG, ist das ein Befreiungsschlag. „Damit wird endlich der erforderliche Kapitalzufluss ermöglicht, um beim technischen Fortschritt mitzuhalten. Jenseits der Börse spart Artnet zudem eine enorme Summe an Verwaltungskosten. So wird das Produktportfolio ausgebaut werden können.“ Dass Beowolff kürzlich auch den Artnet-Konkurrenten Artsy übernommen hat, verleiht der Firma eine mächtige Position, was sich auch in Personalfragen spiegeln dürfte. Dennoch: Hans Neuendorf freut sich auf den Neuanfang. Hier erzählt er, wie alles begann.
WELT: Haben Sie sich als Kind für Kunst interessiert?
Hans Neuendorf: Ja, das fing an, als ich in Hamburg zur Volksschule ging. An der Straßenbahnhaltestelle gab es eine Buchhandlung, wo Kunstbücher auslagen. Darin waren streichholzschachtelgroße Abbildungen zu sehen. Farbige Bilder! Das gab es nach dem Krieg nirgendwo. Später haben mir meine Eltern das Lexikon für moderne Kunst von Knaur geschenkt. Ich konnte es bald auswendig.
WELT: Wie sind Sie dann im Kunstmarkt gelandet?
Neuendorf: Der Vater eines Schulkameraden hatte eine Sammlung von Expressionisten. Ich fragte ihn, wie er diese teuren Bilder bezahlen konnte. Er sagte: Du musst es kaufen, wenn’s noch keiner will. Das wurde später mein Leitspruch. Dann wollte es das Schicksal, dass ich bei uns im Keller diesen großen Koffer öffnete, der schon lange dort stand. Darin fand ich ein kleines Aquarell von Lyonel Feininger. Über den hatte ich gerade in Knaurs Lexikon gelesen! Der Vater meines Freundes vermittelte mich an einen Kunsthändler, der mir 3000 DM bot – damals eine astronomische Summe. Das Geld habe ich meinem Vater gegeben, denn der Koffer stammte von einem russischen Cellisten, dem er Geld geliehen hatte. Er gab mir zehn Prozent, das war mein Startkapital. Von da an trampte ich regelmäßig nach Paris. Ich kaufte Lithografien, sozusagen zur Übung, und verkaufte sie an meinen Zahnarzt. So habe ich als Student mit dem Handel angefangen. Das war gar nicht schwer – in Deutschland gab es einen Riesenhunger nach Bildern, weil alles verboten gewesen war. Also schmiss ich das Studium und mietete eine Wohnung in unserem Haus. Sie wurde meine erste Galerie, in der ich erst Hamburger Künstlerfreunde und später Chagall zeigte.
WAMS: Ihr Aufstieg kam aber durch Pop Art, die in Deutschland noch niemand kannte.
Neuendorf: Ja, ich lernte die New Yorker Galeristin Ileana Sonnabend kennen, die einen Vertrieb in Europa aufbauen wollte. So ein junger, hungriger Typ wie ich kam ihr da gerade recht. Ich zeigte also Werke von Claes Oldenburg und Andy Warhol, die mit 40.000 DM versichert waren – das konnte damals in Deutschland keiner zahlen. Also flog ich mit Sonnabend nach New York und besuchte mit ihr die Ateliers von Lichtenstein, Oldenburg und Christo. Ich nahm das im Kopf mit zurück und konnte es in Deutschland vermitteln. Das fand ich wunderbar. Heute bin ich froh, dass ich das nicht mehr machen muss.
WELT: Wie sind Sie auf die Idee mit Artnet gekommen?
Neuendorf: Als ich Ende der 1970er-Jahre mit an der Pariser Kunstmesse Fiac teilnahm, fiel mir ein Mann auf, der ein Tischchen mit einem Computer aufgestellt hatte. Darauf waren Farbbilder von Kunstwerken zu sehen. Eine Traube von Leuten stand um ihn herum – Computer waren ja damals noch unüblich. Der Mann erzählte mir, dass seine Firma Centrox in New York diese Technik entwickelt hatte: ein digitaler Preisdatenspeicher mit Farbabbildungen. Ich fuhr hin und beteiligte mich daran – so lange, bis ich alle Aktien hatte. Denn mir war klar: Farbbilder schnell und kostenfrei von einem Punkt zum anderen zu schicken verbessert die Kommunikation für Galeristen enorm. Ich fügte das Galerienetzwerk hinzu und taufte die Firma um in Artnet. 1995 kam dann das digitale Kunstmagazin: purer Luxus, aber es war das erste weltweit.
WELT: Der Vorläufer von Artnet News, das seit 2014 besteht. Wie erklären Sie dessen Erfolg?
Neuendorf: Wir können hochwertigen, unabhängigen, investigativen und extrem schnellen Journalismus verbreiten. Das ist teuer, aber wir haben weltweit die meisten Leser und verkaufen sehr viele Anzeigen. Heute, wo man uns für Vernetzung nicht mehr zwingend braucht, sind sie eine wesentliche Einnahmequelle.
WELT: Was bedeutet für das Unternehmen nun die Übernahme?
Neuendorf: Sie beseitigt den jahrelangen Mangel an Kapital und ermöglicht endlich die Weiterentwicklung und das Wachstum der Firma. Artnet wird so weitergeführt wie bisher in Abstimmung mit den ehemaligen Konkurrenten. Das entspricht meiner ursprünglichen Vorstellung von einem digitalen Kunstmarkt.
WELT: Wie sehen Sie seit Ihren Anfängen die Entwicklung des digitalen Kunstmarkts?
Neuendorf: Ich war zwar Pionier, aber total naiv. Wohin das Ganze führt, wusste ich nicht – es war wie beim Zauberlehrling. Der Erfolg ließ zehn Jahre auf sich warten, als digitale Kommunikation aufkam und der Kunstmarkt globaler wurde. Viele Leute kaufen Kunst aus Repräsentationsgründen, um zu zeigen, wie kultiviert sie sind. Andere denken rein spekulativ. Und alles geht furchtbar schnell. Für die Kunst ist das nicht förderlich. Artnet ist Teil davon, wenn wir von Rekordpreisen berichten. Aber mit Kunst hat das nichts zu tun. Auf der Art Basel Miami Beach wurde mal eine betuchte Familie gefragt, was sie bei dem Riesenangebot kaufen würde. Die Antwort lautete: Wir kaufen nur ein Bild, und zwar das teuerste. Frei nach dem Motto: Der Preis bestimmt die Qualität, nicht umgekehrt.
WELT: Verdirbt das die Motivation junger Künstler, weil sie den Markt von Beginn an mitdenken?
Neuendorf: Absolut. Früher war ich oft in der New Yorker Bar Max’s Kansas City, dort saßen die Künstler zusammen mit den Galeristen. Worüber sprach man? Über die Entwicklung der Kunst. Alle waren interessiert, es wurde schwer gekämpft. Heute wird vor allem über Geld geredet. Das führt die Künstler aufs falsche Gleis. Wenn es bei der Karriere vor allem um Geld und Berühmtheit geht, dann ist das ein Fehleinsatz von Ressourcen.
WELT: Sie haben doch mit Artnet dazu beigetragen.
Neuendorf: Wir konnten nicht vermeiden, Teil dieses Systems zu werden. Dass man bei uns Preise vergleichen konnte, trug stark dazu bei, dass die Käufer mutiger wurden. Und die Galerien waren froh, dass sie sich bei uns vernetzen konnten. Unser Vorteil war, dass ein Sammler, der sich für einen Künstler interessierte, auch auf Künstler anderer Galerien stieß. Wenn Sie bei uns den Namen eines Künstlers eingeben, erhalten Sie Angebote von allen Galerien, die ihn vertreten.
WELT: Heute übernimmt das KI.
Neuendorf: Wir arbeiten auch an einer künstlichen Intelligenz, die die Wertentwicklung von Kunst vorhersagt. Aber muss man wirklich in die Kristallkugel schauen? Mir gefällt das alles überhaupt nicht. Es dient den Spekulanten, so wie ich als Kunsthändler früher selbst einer war. Aber es gibt gewisse Entwicklungen, denen man nicht entkommen kann.
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