Seine Bücher? Sind weltberühmt. Doch sein Leben ist ein Rätsel. War Joseph Roth, der Verfasser von „Radetzkymarsch“ oder „Hotel Savoy“, ein Monarchist oder Anarchist? Linker oder Trinker? Noch an seinem Grab soll darüber ein heftiger Streit ausgebrochen sein. Roth selbst nannte sich „Hotelpatriot“: ein ewig Reisender im Jahrhundert der Extreme – auf einer Flucht ohne Ende, immer weiter nach Westen. Geboren bei Lemberg in der heutigen Ukraine, zog es Roth über Wien und Berlin bis Paris, wo er kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vom Alkohol gezeichnet starb. Das Volkstheater Wien reist nun auf Roths Spuren in seine alte Heimat – in die kriegsgebeutelte Ukraine.
Der Wiener Hauptbahnhof an einem neblig-kalten Sonntag: Vor dem Nachtzug nach Kiew mit Halt in Lwiw, wie das ostgalizische Lemberg heute genannt wird, steht eine kleine Gruppe. Regisseur Jan-Christoph Gockel schaut, ob alle da sind: die Schauspieler vom Wiener Volkstheater, vom Nationaltheater Lwiw und Wolodymyr Kachmar, der unverzichtbare Übersetzer. Bereits die Zugfahrt birgt Risiken: Als das ukrainische Ensemble einige Tage zuvor mit dem Zug nach Wien fuhr, landete es an der ungarischen Grenze buchstäblich auf dem Abstellgleis – als Spielball innereuropäischer Machtkämpfe. Über 24 Stunden waren sie unterwegs für unter 600 Kilometer Luftlinie.
Die Gruppe verteilt sich in den holzverkleideten Schlafabteilen, die nostalgischen Charme aus Sowjetzeiten versprühen. Das ukrainische Zugpersonal, bei dem man Tee in Glashaltern bekommt, heizt die Waggons noch mit Kohle. Gockel streift mit seinem Kameramann durch die Gänge und Abteile. Gerade hat der energische 43-Jährige die Schaffnerin interviewt. Am Tag des Kriegsbeginns trat sie ihre Schicht an, die 30 Tage später endete. So groß war der Ansturm von Flüchtenden. Ein Schauspieler vom Volkstheater steckt seinen Kopf ins Abteil und erzählt begeistert von der englischen Warn-App vor Luftangriffen, die mit der Stimme von Luke Skywalker sagt: „May the force be with you.“ Klingt lustig, will man trotzdem nicht erleben.
Damit sich die Schauspieler auf der Reise besser kennenlernen, hat Gockel „gemischte Doppel“ gebildet. Stefan Suske und Stepan Hlova sind eines davon. Suske, seit zehn Jahren am Wiener Volkstheater, hat Nussschnaps mitgebracht. Und Bücher: Seine Ausgabe von Lutz Klevemanns „Lemberg: Die vergessene Mitte Europas“ ist voller Anstreichungen und Zettel. Der 67-Jährige hat sich sorgfältig vorbereitet, hat Martin Pollack über die verschwundene Welt Ostgaliziens, Philippe Sands’ „Rückkehr nach Lemberg“ und vieles mehr gelesen. Hlova, sein Gegenüber, ist ein Jahr jünger und seit 1978 im Ensemble des Marija-Sankowezka-Theaters Lwiw – ein Urgestein mit dem Ehrentitel „Volksschauspieler“. Sie stoßen an: auf Lwiw, auf Roth und auf die Reise.
Kachmar ist als Übersetzer mit im Abteil. Er hat seinen Armeerucksack unter der Liege verstaut. Auf seinem Telefon zeigt der studierte Germanist ein Foto von sich in Uniform, als er von der Front nach Lwiw zurückkehrte. Bis heute belastet ihn der Stress aus der Armeezeit. Kachmar erzählt einen Witz über Lemberg, Lwow oder Lwiw, wie die Stadt in ihrer an gewaltigen und gewalttätigen Umwälzungen nicht gerade armen Geschichte genannt wurde: „Sagt eine ältere Dame zur anderen: ‚Ich bin in Österreich geboren, in Polen zur Schule gegangen, unter den Deutschen fertig geworden, in der Sowjetunion arbeiten gegangen und lebe jetzt in der Ukraine.‘ – ‚Du bist aber viel umgezogen!‘ – ‚Nein, ich habe die Stadt nie verlassen.‘“
Als Gockel ins Abteil kommt, geht es um eine der strittigsten Figuren der Stadt und der Ukraine: Stepan Bandera. Der Nazi-Kollaborateur, mit seinen Truppen verantwortlich für die Ermordung von Polen und Pogrome gegen die Juden, wird als Widerstandskämpfer und Held der ukrainischen Unabhängigkeit verehrt. Und weil die russische Propaganda von „Banderisten“ in der heutigen Ukraine spricht, gibt es ein Jetzt-erst-recht-Gefühl bei der Bandera-Folklore. Historische Wahrheit gerät unter die Räder politischer Blindheit.
Morgens ziehen ukrainische Dörfer im dichten Nebel am Fenster vorbei. Leicht übernächtigt kommt die Gruppe in Lwiw an. Weihnachtsschmuck hängt in den Straßen mit Kopfsteinpflaster und Habsburgerfassaden. Soldaten in Uniform flitzen auf E-Rollern vorbei. Man sieht Siegesparolen auf Hauswänden und stapelweise Klopapier mit Putins Gesicht in Touristenläden. Gelegentlich erhebt sich ein Brummen über der Stadt. Das kommt von den Generatoren vor den Luxusläden und Beauty-Salons, Stripclubs und Sushi-Restaurants, Galerien und Hipster-Cafés. Wegen der Angriffe auf die Energieversorgung wird der Strom für einige Stunden am Tag abgestellt.
Im Hotel sitzt Gockel mit seinem Dramaturgen Claus Philipp in einem Tagungsraum im Erdgeschoss. Durch eine Tür im Boden blickt man in den Keller. „Shelter“ steht auf einem Zettel, der Schutzraum bei Luftalarm. Ganze Nächte hat Gockel in den vergangenen Jahren in solchen Kellern verbracht. Anders als in Kiew, wo jede Nacht die Sirenen heulen, bleibt es in diesen Tagen in Lwiw – über 1000 Kilometer von der Front im Osten entfernt – ruhig.
Warum probt Gockel ein Stück über Joseph Roth im Kriegsgebiet? Im Frühjahr 2023 inszeniert er „Green Corridors“ der ukrainischen Autorin Natalka Vorozhbyt an den Münchner Kammerspielen. Als das Stück kurz darauf in Kiew auf die Bühne kommt, reist Gockel hin. Maksym Golenko, der Regisseur, ist beeindruckt. Er lädt den Deutschen ein, in Lwiw zu arbeiten, wo er gerade das Nationaltheater übernommen hat. So entsteht mit „Who the fuck is Joseph Roth?“ eine erste Annäherung auf der kleinen Bühne. Doch Gockel plant Größeres: eine Koproduktion zwischen Wien und Lwiw.
Wir wollen zeigen, wie sich die beiden Städte aufeinander zubewegen“, sagt Gockel. „Ukrainomania“ ist eine wechselseitige Befragung zwischen Wien und Lwiw, mit dem in Identitätsfragen notorisch unzuverlässigen Roth als Vehikel. Der schrieb in den 1920ern als Feuilletonist und Reisereporter über die „Ukrainomanie“, die exotistische Begeisterung für den ukrainischen Nationalismus in Metropolen wie Wien und Berlin. Roth hingegen fürchtete eine Bedrohung für das utopische Vielvölkergemisch Galiziens. Seinen seismografischen Sinn für kommende Katastrophen bringen Gockel und Philipp als Revue auf die Bühne. Für sie ist Roth kein Nostalgiker, sondern ein hochaktueller Experte für Zusammenbruchsszenarien.
Roth wird in „Ukrainomania“ von Bernardo Arias Porras gespielt. Bereits im April war der 36-jährige Schauspieler vom Volkstheater einige Tage in Lwiw. Es war Frühling – und der Beginn des vierten Kriegsjahres. Er sah junge Frauen in luftigen Kleidern neben Männern ohne Gliedmaßen. Mit Gockel und Philipp war Porras auch in Roths Geburtsstadt Brody, knapp 90 Kilometer entfernt. Der riesige jüdische Friedhof und die verfallene Synagoge sind die Ruinen der längst zerstörten Welt von Roths Kindheit. Heute werden dort, wie Porras erzählt, Drohnenbausätze zusammengesetzt. Von Hausfrauen in Waschkellern, aber auch von Kindern im Kindergarten – fast wie Lego.
In seiner Rolle als Roth trifft Porras in einem alten Café auf seinen ukrainischen Übersetzer Jurko Prochasko. Prochasko lobt Roth als Chronisten turbulenter Zeiten, den er literarisch in seine galizische Heimat zurückholen wolle. Der 45-Jährige mit stechendem Blick arbeitet außerdem als Psychoanalytiker. Seine Großmutter hörte als Medizinstudentin in Wien noch Vorlesungen von Sigmund Freud persönlich. Auch Prochasko wurde in Österreich ausgebildet, ist viel hin- und hergereist. Bei Roth wäre er aber an seine Grenzen gekommen: „Ich behandele keine Suchtmenschen.“ Heute hat Prochasko in seiner Praxis täglich mit der seelischen Zerstörung des Krieges zu tun.
Auch im Theater merkt man die Kriegsmüdigkeit, wie Golenko sagt. Er sitzt hinter dem großen Holzschreibtisch im Intendantenbüro mit Bandera-Plakat. Zu Kriegsbeginn waren im Theater Flüchtlinge untergebracht. Und heute? Boomt das Theater, erzählt der kräftige 47-Jährige, die Säle sind voll. Im ersten Kriegsjahr waren patriotische Heldengeschichten gefragt, jetzt sind es Komödien und Musicals. Zudem wurde das Repertoire völlig entrussifiziert. „Die Kultur des Aggressors darf auf ukrainischen Bühnen nicht vertreten sein“, betont Golenko. Krieg ist auch Kulturkrieg. Dass eines Tages wieder Tschechow in Lwiw gespielt wird? Das werde er nicht mehr erleben, sagt Golenko.
Abends lädt Golenko zum Empfang. Zum weihnachtlich gewürzten Wodka gibt es eine frohe Botschaft: Der Premierentermin steht fest! Nach der Wiener Premiere im Januar wird „Ukrainomania“ im Juli in Lwiw gezeigt. Suske prostet Hlova zu. Am Morgen haben sie auf der Bühne die Streitszene am Grab geprobt, mit Kapelle und Radetzkymarsch. Es gibt wohl kaum einen besseren Paten für diese außergewöhnliche Theaterbegegnung in Zeiten des Krieges als Joseph Roth, der sich bis zu seinem Tod nie festlegen ließ und einer unruhigen Epoche mit Reisen und geistiger Beweglichkeit begegnete.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke