„Families Like Ours“ (ARD)

Nehmen wir an, das zweitglücklichste Land der Welt müsste sich auflösen. Weil es sich nicht mehr lohnt, die Küsten zu sichern. Alle Dänen müssten ins Exil. Thomas Vinterberg, der humanistische Menschensezierer, betreibt in „Families Like Ours“ Klimakatastrophenfolgenforschung, spielt mit einer Familie, die wir alle sein könnten, durch, was geschehen könnte. Und wie zivilisiert die Zivilisation ist, wenn es drauf ankommt. Eine Dystopie, die hoffen lässt auf die unzerstörbare Kraft des Menschen zu Mitleid und Barmherzigkeit. Genau das Richtige für die Zeit zwischen den Jahren. Elmar Krekeler

„Adolescence“ (Netflix)

Im Morgengrauen beginnt der Albtraum. Ein Mannschaftswagen der Polizei, ein Rammbock, eine aufgestoßene Tür, dahinter der 13-jährige Jamie im Schlafanzug in seinem Bett. Er wird mit aufs Revier genommen, die Eltern sind in Schockstarre. Regisseur Philip Barantini hat die Mini-Serie als Vierakter ohne einen einzigen Schnitt gefilmt, als wollte er uns zwingen, hinzublicken – auf den subtilen Schrecken, auf die Schuld von kaum strafmündigen Kindern, auf die blinde Ohnmacht der Eltern. Wie in Echtzeit entfaltet sich die Handlung nur allmählich, irgendwann ist klar: Ein Mädchen ist mit sieben Messerstichen ermordet worden, Jamie muss etwas damit zu tun haben. „Adolescence“ zeigt eine Generation von Kindern, die bereits erfahren im Umgang mit den digitalen Codes der Grausamkeit ist. Eine Schlüsselrolle kommt Jamies Handy zu, das die Diskrepanz zwischen dem scheinbar liebenswürdigen Spross und dem bösartigen Online-Peiniger aufdeckt. Am Ende steht die Frage, wer hier gescheitert ist: die Kinder, ihre Eltern oder die Gesellschaft als solche. Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ wird hier zum modernen Sozialdrama. Jens-Ulrich Eckhard

„Squid Game“ (Netflix)

Warum flüchten Menschen aus ihrem ganz normalen Alltag freiwillig in eine bonbonfarbene Parallelwelt, deren Bewohner nur noch Nummern sind, die in sadistischen Kinderspielen ums Überleben kämpfen? Diese Frage können nicht nur die zahllosen Helden der südkoreanischen Serie „Squid Game“ schwer beantworten. Sie setzt auch ihre Fans unter Rechtfertigungsdruck. Vielleicht kann man sie – in Bann geschlagen von diesem Gesellschaftsexperiment voller Schönheit und Tragik, Liebe und Hass, Witz und Spannung, das nun in die dritte Staffel ging – nur mit einer Gegenfrage beantworten: Was ist der Mensch? Andreas Rosenfelder

„Auf Fritzis Spuren – wie war das so in der DDR?“ (ARD)

Angeblich wissen deutsche Kinder mehr über die Wikinger als über ihre eigenen Volksstämme. Die Ostdeutschen siedeln seit 1949 jenseits des Thüringer Waldes und der Elbe. Nun zeigt eine sechsteilige Serie, was an Schulen offenbar nur oberflächlich unterrichtet wird. Zwei Nachgeborene, Julian und Anna, fahren einen Trabi und verwandeln sich in animierte Zeitzeugen. Das Land vor ihrer Zeit ist graubraun. Es gibt das Gespenst der Stasi, aber auch lustige Subkulturen. In New York bekam die Doku bereits einen Emmy. Amerikaner interessieren sich für die Kinder des Kalten Krieges. Michael Pilz

„Marzahn Mon Amour“ (ARD)

Die ganze Serienwelt ist besetzt von Zynikern, von Reichen, die gegessen werden sollten, geprägt von Kälte und deswegen ein akkurater Spiegel der Wirklichkeit. Die ganze? Es gibt sie noch, die Mehrteiler, in denen die Figuren nicht zwangsläufig ihres Nächsten Wolf werden. Eine dieser Wärmestuben der Mitmenschlichkeit eröffnete im Zentrum Berliner Seelenlosigkeit. „Marzahn Mon Amour“ erzählt Geschichten aus dem Leben der Fußpflegerin Kathi Grabowski (Jördis Triebel). Am Ende sieht man die Leute in der Tram mit anderen Augen. Und hat alle doch sehr lieb. Elmar Krekeler

„Down Cementary Road“ (Apple)

Ein Mädchen verschwindet. Ein mysteriöser Mann taucht auf. Ein Haus fliegt in die Luft. Und schon findet sich die achtsam-arglose Restauratorin Sarah Tucker (Ruth Wilson) in einem Hitchcock-Plot wieder, der von Mick Herron („Slow Horses“) geschrieben wurde. An ihrer Seite hat sie bald die abgehalftert-zynische Detektivin Zoë Boehm (Emma Thompson). Beide Frauen hätten sich nichts weniger gewünscht, als in ein lebensgefährliches Komplott hineingezogen zu werden – und sich dann noch an ihrem Antityp reiben zu müssen. Das sprüht vor Spielfreude und ist erfreulich straff erzählt. Macht Lust auf die zweite Staffel (gerade angekündigt). Marcus Woeller

„The White Lotus“ (Wow)

Einen Augenblick zu lang weilt die Kamera auf einer am Boden liegenden tropischen Frucht – und das Internet dreht durch. Hat die Frucht das Zeug zur Mordwaffe? „The White Lotus“ ist eine der aufregendsten Gesellschaftssatiren der letzten Jahre. Die HBO-Serie von Mike White folgt in jeder Staffel einer neuen privilegierten Gruppe in den Luxus-Resort-Urlaub. Vor der idyllischen Kulisse Hawaiis, Italiens oder Thailands treten menschliche Abgründe zutage. Nach und nach entfalten sich Machtspiele von Gästen und Personal, Klassenkonflikte und innere Dramen. Für die Zuschauer entsteht dabei nicht nur ein scharfes Porträt westlicher Wohlstandsblasen, sondern sie finden darin auch Indizien für die Suche nach dem Mörder, in dessen Tat die bisherigen Staffeln münden. Die Serie seziert nicht nur moderne Elitenkultur, sondern auch die Sehnsüchte des Publikums. Mike White zeigt Modemarken, Interieurs und Lifestyle-Objekte, die uns schmerzlich vertraut vorkommen, und trifft damit den Zeitgeist beschämend akkurat. Für Staffel 4 geht es nach Frankreich. Welche Urlauber aus früheren Staffeln einchecken, ist noch geheim. Imke Merit Rabiega

„And Just Like That“ (Wow)

Es gibt viele Gründe, „And Just Like That“, die lang erwartete Fortsetzung von „Sex and the City“, zu den schlechtesten Serien aller Zeiten zu zählen, insbesondere die letzte Staffel: Aus recht unabhängigen, wilden, inkorrekten Freundinnen um die dreißig, die sich von Männern und Beziehungen nehmen, was sie wollen, sind saturierte, zurechtgeföhnte Frauen jenseits der Fünfzig geworden, die großäugig zu klagen beginnen, wenn ihre polierten Leben auch nur kleine Kratzer bekommen – eine durchgentrifizierte Travestie von „Sex and the City“. Aber weil das Original einzigartig ist, kann man selbst dem noch einiges abgewinnen; die Stadt New York macht es vor. Mara Delius

„FC Hollywood“ (ZDF)

In den 90er-Jahren wurde der Profifußball von einer riesigen Vermarktungswelle erfasst. Mittendrin surfte der FC Bayern München. Es waren wilde Jahre, zwischen Säbener Straße und P1. Es waren auch wilde Jungs: Lothar Matthäus, Jürgen Klinsmann, Mario Basler, Stefan Effenberg. In der Kabine ging es zu wie in einem Shakespeareschen Königsdrama. Und auf dem Platz? War auch mal die „Flasche leer“, während an der Bar die Gläser immer halb voll waren. Wer diese Zeit noch einmal nacherleben will, muss die ZDF-Miniserie über den „FC Hollywood“ schauen! Jakob Hayner

„Severance“ (Apple)

Ist es eine ins Extreme getriebene Satire auf die zeitgenössische Arbeitswelt? Oder ein surrealistisches Experiment, dessen Handlung immer noch einen weiteren Schritt in die Absurdität wagt? Ein Labyrinth ohne Ausgang, so wie die klinisch kahlen Gänge der diabolischen Firma Lumon Industries, die ihren Angestellten Chips einpflanzt, die zu künstlicher Bewusstseinsspaltung führen? Jede Figur besteht aus einem „Innie“ und einem „Outie“, die das Leben des jeweils anderen nicht kennen. Die erste Staffel etablierte 2022 das schrullige Quartett des Unternehmensbereichs „Macrodata Refinement“, das keinen Schimmer hat, was die von ihnen auf Retro-Bildschirmen sortierten Zeichen eigentlich bedeuten. In Staffel 2 aber nimmt die von Ben Stiller erdachte Serie um Abteilungsleiter Marc Scout (Adam Scott) erst so richtig Fahrt auf und wird zu einem im Doppelsinn fantastischen Liebes- und Ehedrama. Bis in die Nebenrollen sensationell besetzt, mit John Turturro, Christopher Walken oder Patricia Arquette. Richard Kämmerlings

„Hundertdreizehn“ (ARD)

Wo viele Mini-Serien einen Fall, dem eigentlich 90 Minuten gutgetan hätten, mühsam auf sechs Folgen ausdehnen, hat die österreichisch-deutsche Serie „Hundertdreizehn“ über ein Busunglück und seine Konsequenzen so viel zu erzählen, dass jede einzelne Minute gerechtfertigt ist. Immerhin sind es durchschnittlich 113 Personen, die von so einem Unfall betroffen sind: der Fahrer, die Opfer, die Angehörigen, der Feuerwehrmann. Jede Episode ist wie ein mitreißender eigener kleiner Film, zusammengehalten durch die Frage, wie es zur Katastrophe kommen konnte. Marie-Luise Goldmann

„The Studio“ (Apple)

„The Studio“ folgt den Abenteuern von Seth Rogen als Matt Remick, der vom nach Smoothies brüllenden Bryan Cranston zum Boss eines Hollywoodstudios befördert wird. Ab Minute eins managed Remick den reinen Irrsinn. Ein Kool-Aid-Blockbuster konkurriert mit einem Scorsese-Projekt über Massenselbstmord, parallel dreht die Marketingchefin durch. Wokeness-Korsett, Egowahn, Shitstorms – alles bekommt im Laufe der zehn herrlichen Folgen einen Seitenhieb mit. Hollywood at its worst ist Hollywood at its best. Jan Küveler

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