Von der Uckermark bis zum Harz: Der Osten wird gerade von einer jüngeren Generation deutscher Filmemacher neu entdeckt. Jammer-Ossis oder demokratieunfähige Wutbürger? Solche Klischees sparen Kinofilme wie „Rote Sterne überm Feld“ oder „Sehnsucht in Sangerhausen“ aus. Stattdessen begegnet man einer widersprüchlichen Geschichtslandschaft, die zwischen den Träumen und Geistern der Vergangenheit gefangen ist. Das ist weder Wendekomödie wie „Zwei zu eins“ noch Stasidrama wie „Nahschuss“ oder „Baseballschlägerjahre“-Melodram wie „Mit der Faust in die Welt schlagen“, sondern ein längst überfälliges neues Genre: der ostdeutsche Heimatfilm.
Wen interessiert schon Berlin, New York oder Paris? „Die schönsten Rosen blüh’n in Sangerhausen“ ), heißt es in dem Schlager von Bianca Graf über die Kleinstadt im Harz. Und nicht nur Rosen, auch blaue Blumen lassen sich an der Grenze von Sachsen-Anhalt zu Thüringen finden: Der in der Nähe geborene romantische Dichter Novalis prägte die florale Weltschmerz- und Fernwehmetapher, die Julian Radlmaier in seinem neuesten Kinofilm bis in die Gegenwart verfolgt.
„Sehnsucht in Sangerhausen“ hat selbst etwas von einem neoromantischen Kunstmärchen, das in poetischen Bildern und mit schrägem Humor vom Leben einfacher Leute in der ostdeutschen Provinz erzählt – und dabei auch das erstaunlich ergiebige Genre des Sangerhausen-Schlagers nicht scheut.
Sangerhausen ist die Entsprechung zu dem, was man in den USA „Fly Over Countries“ nennt: eine Vorbeifahrstadt. Eine Abfahrt an der Autobahn, die niemand nimmt, der nicht dort wohnt. Oder sich wirklich sehr für Rosen interessiert. Von der einst großen Bergbauindustrie ist eine riesige Abraumhalde geblieben, die wie eine altägyptische Pyramide über der Stadt thront und die der 1984 geborene Radlmaier mit seinem Kameramann Faraz Fesharaki immer wieder ins Bild rückt. Sie wirft ihren Schatten über die Fachwerkhäuser. Das Symbol einer brutalen Deindustrialisierung, die einen Haufen nicht verwertbares Material hinterlassen hat, was auch die Menschen vor Ort betrifft. Und auch ein Symbol für den Osten als solchen: als „Transformationslandschaft“.
Unter denen, die nicht gegangen, sondern geblieben sind, ist die von Clara Schwinning gespielte Ursula. Als Wiedergängerin zweier Mägde des jungen Adligen Novalis, die vom „Geschichtszeichen“ (Immanuel Kant) der Französischen Revolution erfasst werden, schleppt sie sich mit einem Staubsauger durch die leeren Gänge eines Möbelhauses, kellnert als Zweitjob im Café und brät abends dem Mann die Schnitzel in der Pfanne. Gibt es ein Zeichen, das sich ihr Leben verändern könnte? Wie der kleine bläuliche Stein (keine Blume!), den sie am Wegesrand im Industriegebiet findet? Schwinnings Ursula scheint wie eine Wartende, in deren Gesicht sich ein zögerndes Geöffnetsein spiegelt.
Wie Heilsbringer erscheinen Ursula drei junge Musiker aus Berlin, die im Osten auftauchen, um die postindustrielle Tristesse beim „Kultursommer“ zu bespaßen. Doch die schnöden Hipster erweisen sich schnell als arge Enttäuschung. Ganz anders als die bunte Truppe, auf die Ursula danach trifft, darunter eine Exil-Iranerin, die als erfolglose Influencerin für Low-Budget-Reisen unterwegs ist, und ein beschäftigungsloser Anbieter für Tagesausflüge im vollklimatisierten Kleintransporter mit Enkelkind. Aufgrund einiger Verwicklungen flüchten sie bald nicht nur vor der Polizei, sondern auch vor zwei bayrischen Nacktwanderern. Wie bereits in seinen Vorgängerfilmen „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“ und „Blutsauger“ pflegt Radlmaier eine Komik des Skurrilen.
Und doch ist „Sehnsucht in Sangerhausen“, beim Filmfestival Locarno im Wettbewerb gelaufen, eine ernste Komödie über eine Gesellschaft unter Spannung. Dabei zeichnet der Film seinen Außenseiterfiguren mit einer Liebe, wie man es von Hirokazu Koreeda oder Andrea Arnold kennt. Nicht von den einfachen Leuten geht hier die Brutalisierung der Verteilungskämpfe aus, schon eher von denen, die man wie Bundeskanzler Friedrich Merz nicht auf der Leinwand sieht, sondern nur im Radio hört. Der im Film angedeutete Gegenentwurf ist nicht die heute vorherrschende Arithmetik der Identitäten, sondern eine geteilte Sehnsucht. Und die ist überall zu Hause, nicht zuletzt in Sangerhausen.
Was bei Radlmaier die Abraumhalde ist, findet die 1985 geborene Laura Laabs in den Moorlandschaften der brandenburgischen Uckermark: einen Geschichtsraum. Was in diesem Sumpf versinkt, verwest nicht – oder taucht gar unheimlich wieder auf. Wie in dem deutschen Oscar-Beitrag „In die Sonne schauen“ blickt auch „Rote Sterne überm Feld“ auf die Ablagerungen und Sedimente der Vergangenheit. Das geht von den Nazis und dem Zweiten Weltkrieg über die DDR und die RAF bis in die Gegenwart, in der die von Hannah Ehrlichmann gespielte Tine als Aktivistin einer „Ästhetischen Linken“ für Aufruhr sorgt. Klingt wild? Es ist ein überbordender Mix der Genres, Mittel und Ebenen.
Wo Radlmaier die Klischees über Ostdeutschland unterläuft, bricht Laabs – die mit „Adlergestellt“ kürzlich zudem einen Roman über eine Nachwendekindheit in Ost-Berlin veröffentlichte – mitten durch sie hindurch. Ihr Humor ist brachialer, doch ebenso ernst: Auch hier treffen Weggezogene auf die Dagebliebene, großstädtische Linksbewegte auf Kleinstadtrechte, während zwischen LPG-Kitsch und Friedensdemo nachgeforscht wird, was in Bad Kleinen mit RAF und GSG-9 passierte. Oder den Windrädern der Krieg erklärt wird, während auf dem Dachboden des von Hermann Beyer gespielten Stasi-Opas mit „Junge Welt“ auf dem Esstisch der BND im Hasenkostüm lauscht. Man droht zwar, in den ausfransenden Handlungssträngen verloren zu gehen, doch langweilig wird es nie.
Das „Gewühle in der Vergangenheit“
Was den Film im Innersten zusammenhält? Es ist das „Gewühle in der Vergangenheit“, wie der Opa über Tine schimpft. Erzählt wird ausgehend von einer ostdeutschen Erfahrung, in der sowohl sozialistisches Glücksversprechen (passenderweise trägt die LPG den Namen Glücksstern) als auch die Verbrechen der Nazis begraben sind. Wie bei Heiner Müller sind hier Unglück und Utopie gleichermaßen im Sumpf der Geschichte versunken. Um sie auseinanderhalten zu können, muss man sie wie die Moorleiche im Film wieder ausgraben. Da kann es beim Wühlen auch mal unappetitlich werden. Es ist eine geschichtsphilosophische Tiefenbohrung auf ostdeutschem Terrain, für die im Film Walter Benjamins Idee, man müsse die Geschichte gegen den Strich bürsten, Pate steht.
Während „Rote Sterne überm Feld“ beim Max-Ophüls-Filmfestival in Saarbrücken mit dem Preis der Filmkritik ausgezeichnet wurde, bekam der Film auf einem Berliner Festival anonyme Boykottaufrufe, weil der „Rammstein“-Sänger Till Lindemann den Erlkönig spielt. Gedreht wurde vor den medial kolportierten und inzwischen gerichtlich kassierten Vorwürfen strafbewehrt missbräuchlichen Verhaltens und so weigerte sich Regisseurin Laabs, Lindemann nachträglich „rauszuschneiden“, zudem er im Film – passenderweise? – den bösen Verführer verkörpert. Doch allein die insgesamt wohl kaum mehr als zwei Minuten Leinwandauftritt reichten, um die Gemüter zu erregen.
Ganz abgesehen von dem Lindemann-Trubel hat „Rote Sterne überm Feld“ zum Schluss eine hoffnungsfrohe Botschaft zu überbringen. „Die Geschichte ist noch nicht zu Ende“, heißt es da. Es scheint, dass das Ende vom Ende der Geschichte nun aus den Mooren oder Abraumhalden der ostdeutschen Landschaften steigt, wo die Heimat als Reservoir alternativer Gesellschaftsentwürfe wiederentdeckt wird. Man sucht das Neue abseits der in dieser Perspektive geschichtsvergessenen Metropolen, in denen weder Alpdruck noch Veränderungswucht des Historischen gleichermaßen zu verspüren sind. Wenn das der ostdeutsche Heimatfilm ist, dann wünscht man diesem Genre eine große Zukunft.
„Rote Sterne überm Feld“ läuft ab dem 6. November und „Sehnsucht in Sangerhausen“ ab dem 13. November im Kino
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