Ist Frankreich dabei, sich aufzugeben? Nein, ganz im Gegenteil. „La nation“ ist immer noch sehr groß. Die Kronjuwelen der Kaiserin mögen auf immer verschollen sein, aber wer in diesen Tagen den Louvre betritt, der erlebt etwas, das es so nur hier geben kann. Der Klassizist Jacques-Louis David ist zum 200. Todestag Gegenstand einer famosen Schau, die einem mal Ehrfurcht einflößt, mal Mitleid und mal Schrecken, oft beides zugleich.
Jacques-Louis David wird 1748 in gut situierte Verhältnisse hineingeboren, sein Vater stirbt bei einem Duell, als er neun Jahre alt ist, und er wird von seinen Onkeln erzogen. Er weigert sich, wie vorgesehen, Architekt zu werden, und wird schnell als Maler erfolgreich, gewinnt den wichtigen Kunstpreis der Königlichen Akademie und wird in Rom vom Geist der Antike inspiriert. Schon vor der Revolution hatte Jacques-Louis David seinen Stil gefunden. Der „Schwur der Horatier“ von 1784 ist der Durchbruch.
Vor einem verschatteten Arkadengang fassen sich drei Brüder in Harnisch um die Hüften und heben ihre Hände zum Gruß. Ihr Vater Horatius hält die schweren, scharfen Schwerter empor. Der Schwur der Horatier ist einer auf Treue und Opferbereitschaft, das Motiv ein antikes: Um den Konflikt zwischen Rom und der benachbarten Stadt Alba Longa beizulegen und unnötiges Blutvergießen zu vermeiden, beschlossen die jeweiligen Könige, drei Männer stellvertretend für ihr Volk antreten zu lassen. Man sieht auf dem Bild nicht den Kampf, sondern den Entschluss.
Jacques-Louis David imaginiert sich die Antike anders als die Maler vor ihm – karger und dabei doch authentischer, starrer und doch ergreifender. Die moralischen Entscheidungen von damals bürdet er den Betrachtern seiner Zeit auf. Welche Opfer ist der Einzelne bereit zu bringen, um Schaden von der Allgemeinheit abzuwenden? Durch die Leinwand weht ein antiker, republikanischer Geist, der im Gewand des klassischen Heldentums auftritt – heroisch, stoisch, erzieherisch. „Der Schwur der Horatier“ enthält bereits das Grollen der kommenden politischen Erschütterung. Das ist das Aufregende an David: dass seine Werke die Ereignisse von 1789 zu antizipieren scheinen.
Die Fähigkeit der Kunst, die Welt zu verändern
Am 20. Juni 1789 versammeln sich die Abgeordneten des Dritten Standes im Ballhaus und schwören, nicht zu weichen, bis Frankreich eine Verfassung hat. Schon wieder ein Schwur, den David monumental malen sollte. Auf der unvollendeten, sechs Meter breiten Leinwand prangen die Umrisse nackter, sehr durchtrainierter Abgeordneter, von denen einige ausgearbeitete Köpfe haben, die meisten aber nur Schatten sind – David skizzierte erst die nackten Körper und malte dann aus.
Es ist ein Organismus aus vielen Wesen, die auf verschiedene Weisen dasselbe empfinden: Erregung über die eigene Courage. Es wird sich gegen die Brust geschlagen, Augen werden aufgerissen, Arme umklammert und Hüte gereckt. Auf der Balustrade des Ballspielhauses stehen Zuschauer, die weit weniger bewegt sind – das volle Theater der Geschichte ist ihren Akteuren vorbehalten. Die Intensität des Gefühls beweist die Größe des Augenblicks.
Jacques-Louis David schließt sich der Revolution an. Er verbündet sich mit den radikalen Jakobinern, wird Freund des Tugendterroristen Robespierre und verewigt den revolutionären Scharfmacher Jean Paul Marat in einer Komposition, die so ziemlich jeder schon einmal gesehen hat: „Der Tod des Marat“ in der Badewanne, nackt, schwach und doch ein Held. In der Ausstellung sind alle drei Fassungen versammelt, vor schwarzen Wänden. Man kommt sich vor wie in einer Gruft, aber aus dem Dunkel heraus leuchtet Kunst.
Kein anderer Künstler hat Frankreich so sehr verkörpert wie Jacques-Louis David – in all seiner Größe, seinen Widersprüchen, Tragödien und seiner Fähigkeit zur radikalen Erneuerung, von der heute zugegebenermaßen wenig zu bemerken ist. Umso besser, dass die Schau jetzt stattfindet, zwischen Juwelenraub und Staatskrise. „Davids Werk“, schreibt der Leiter der Gemäldeabteilung des Louvre, „stellt die Frage nach dem Engagement des Künstlers in der Gesellschaft – und nach der Fähigkeit der Kunst, die Welt zu verändern.“
Marat ist nicht der Einzige, den David unsterblich macht. „Der Tod des jungen Barra“ aus dem Revolutionsjahr 1793 zeigt die Leiche eines Kindes, hingestreckt von Soldaten des Königs, nackt und wie schlafend. Ein schauriges Bild, das unvollendet blieb. Joseph Barra hatte sich, mit 13 Jahren eigentlich zu jung, als Trommler freiwillig zur Armee gemeldet und starb beim Versuch, Pferde der Republikaner gegen die Royalisten zu verteidigen. Robespierre erklärte ihn zum Kinderhelden der Revolution, zum Märtyrer.
Warum mussten all diese Menschen sterben? Wie wäre es anders möglich gewesen, Freiheit und Gleichheit durchzusetzen? Zweifel sucht man hier vergeblich. Jacques-Louis Davids Gemälde sind von dem Bewusstsein durchdrungen, dass Kunstwerken bei der Formierung von Macht eine zentrale Rolle zukommt. Seine Malerei behauptet nicht, sie wirkt unmittelbar. Die Signatur des Künstlers heftet sich seit „Marat“ direkt an Bildgegenstände. Der Künstler ist nun Teil von dem, was er malt; es gibt keine Trennung mehr zwischen Kunst, Leben und Politik.
Überhaupt die Details. „Jahr 2“ steht auf dem Tischchen neben Marats Badewanne – so, als beginne die Zeitrechnung erst mit der Revolution. Von 1792 bis 1794 schafft David die eindrucksvollsten Bilder dieser Umwälzung und gestaltet ihre Feste. Er ist durch die Nähe zu Robespierre ungemein mächtig und stürzt das akademische System, von dem er selbst profitierte, das ihm aber für seinen Geschmack nicht genug entgegenkam.
Am 16. Januar 1793 stimmt er für die Hinrichtung des Königs, der ihn einst förderte, sich aber mit fremden Mächten gegen die Revolution verschworen hatte. Das Fallbeil ist pathetisch, aber nicht sentimental. In seinen Skizzen verschmilzt David die Antike mit einer tumultuösen Gegenwart.
So könnte es gewesen sein, denkt man, zur Zeit des größten Umbruchs der europäischen Geschichte im Auge des Orkans gelebt zu haben – gefährlich, unerhört, hoffnungsvoll, voller Ungewissheiten. Die Revolution brach mit Regeln, die Jahrhunderte gegolten hatten, praktisch über Nacht. Monate hießen anders, Straßen wurden umbenannt, die Anrede wechselte, und ein falsches Wort konnte den Tod bringen.
Jacques-Louis David ist mittendrin. Was denkt er? 1794 entsteht ein Selbstbildnis, das das Bild von David prägen wird. Diese wachen Augen, die einen treffen und doch an ihrem Gegenüber vorbeigehen. David hält sein Handwerkszeug in den Händen, lässt es nur kurz sinken, um innezuhalten. Was geht in diesem Kopf vor? Und wie schafft er es, ihn auf den Schultern zu behalten?
Der Terror wendet sich gegen seine Urheber. Robespierre stürzt und wird nach einem Selbstmordversuch exekutiert. David wird verhaftet, entgeht der Guillotine. 1795 zieht er sich zurück – und ist schon 1800 wieder ganz vorn mit dabei, mit den „Sabinerinnen“. Ein Jahr zuvor, am 9. November 1799, hatte Napoleon das Direktorium gestürzt und war nun praktisch Alleinherrscher.
Es ist paradox: Wenn wir an Napoleon denken, sehen wir David. Begegnet war David dem jungen General schon 1797 und hatte ihn damals schon begeistert porträtiert. So ziemlich jeder Mensch kennt „Napoleon am Großen Sankt Bernhard“ (1801) mit der vorwärts und in den Himmel weisenden Hand des Feldherrn. Das Reiterbild ist eine klassische Überhöhung, eine Fantasie, die von den Zeitgenossen auch kritisiert wurde: „Ein großer Mann, und sei er noch so jung, trägt nicht das Gesicht eines Kindes.“
Das ficht David nicht an, er malt schließlich für die Geschichte – etwa die monumentale „Krönung Napoleons“ zum Kaiser im Jahr 1805–1807, einen echten Historienschinken. David hat einen Machtinstinkt, aber er ist kein Staatsmaler. Der Künstler verfügt über eine Intelligenz und Bandbreite, die einen in der Ausstellung immer wieder verblüfft.
Etwa in einem weiteren Porträt des Herrschers: „Der Kaiser Napoleon in seinem Arbeitszimmer im Tuilerien-Palast“, für das er wahrscheinlich nicht Modell stand. Keine Alpen, kein Schlachtross, kein wehender Mantel. Napoleon trägt die blau-weiße Uniform eines Obersten der Fußgrenadiere. Er arbeitet, ein Detail verrät es, am „Code Napoléon“, einem neuen Gesetzbuch, das dauerhafter nachwirken sollte als seine Schlachterfolge.
Die Kerze ist ein Stummel, die Uhr steht auf 4:13 Uhr, und die Haare des Korsen sind etwas zerzaust – der Kaiser der Franzosen arbeitet Tag und Nacht zum Wohl der Nation. Papiere, Landkarte, das abgelegte Schwert – all die Attribute einer auf Leistung und Mut statt auf fürstliche Abstammung basierenden Macht hat der Porträtist versammelt. Doch das Bild wirkt direkt und unmittelbar, denn es ist der Blick des lebensgroßen, heute in Washington verwahrten Porträts, der das alles in sich vereinigt.
Woher dieser Anspruch kommt, Macht und Aufklärung zusammenzudenken, Kunst als Handlung und Handeln als Kunst zu inszenieren – und dabei für das Gute und Schöne buchstäblich über Leichen zu gehen –, das lässt sich hier im Louvre begreifen. Oder wenigstens erahnen.
„Jacques-Louis David“, bis 26. Januar 2026, Musée du Louvre, Paris
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke