In der Kantine des wichtigsten deutschsprachigen Theaters darf nicht mehr geraucht werden. Bibiana Beglau setzt sich mit uns vor den Hintereingang, das Glas Weißwein tragen wir am Portier vorbei. Aber was heißt hier Hintereingang, ein gewöhnlicheres Theater würde ihn auch als Portal mit Kusshand nehmen. Die Vorstellung ist seit 20 Minuten vorbei, aber noch immer verlassen letzte Zuschauer das Haus gegenüber der Burg.

Bibiana Beglau hat sich beinahe vollständig in sich selbst zurückverwandelt, nur die Ohren sind noch etwas weiß, so wirken sie auf der Bühne größer. „Ich schminke mich selbst“, erklärt die Schauspielerin, „da passiert so was.“ Das leicht Fledermaushafte der Hauptrolle aber hat mit ihrer lebhaften, zupackenden Art nichts zu tun. Zwei Stunden lang gab sie den von Molière 1664 erstmals auf einer Bühne installierten Heuchler und Frömmler, der sich mittels einer schwärmerischen Männerfreundschaft mit dem Hausherrn Orgon als blutsaugerischer Parasit in dessen Bürgerfamilie einnistet, um ihr alles wegzunehmen.

„Tartuffe“ ist ein Klassiker des 17. Jahrhunderts, der in der Gegenwart noch immer hervorragend funktioniert, weil er psychologisch genau und sprachlich überragend ist. Aber diese Brillanz hat ihren Preis. Bibiana Beglau ist erschöpft. Die Kritik feiert die Inszenierung, der gebürtigen Braunschweigerin aber verlangt sie alles ab. „Ich habe Blut und Wasser geschwitzt“, sagt sie rauchend, „weil ich Tartuffe sozusagen gegen meine Natur gerichtet spielen muss, maximal zurückhaltend und ohne Körpereinsatz.“ Sie schwärmt sogleich von der Regisseurin, die ihr das eingebrockt hat.

Die Schweizerin Barbara Frey interpretiert den Klassiker anders als die meisten Regisseure vor ihr – stiller, zurückhaltender, leiser. „Das ist es, was wir am Theater machen“, sagt Bibiana Beglau. „Wir führen den Text nicht einfach nur auf, sondern interpretieren ihn.“ Mit Barbara Frey könne sie auch nach den Proben noch stundenlang diskutieren, so wie mit Frank Castorf. Das Ergebnis ist ein ungewöhnlicher „Tartuffe“, in den sie ihre ganze Intensität einfließen lässt, ohne sie je offen zu zeigen.

Schon das Warten sei schwierig: Erst im dritten Akt tritt Beglau auf der Bühne in Erscheinung. Alle anderen haben da bereits viel von ihr geredet, also vom Tartuffe. Wenn er dann in Erscheinung tritt, spricht er leise und wirkt vertrauenswürdig wie ein Priester: „Ich bitte euch, den Busen zu bedecken. Der Anblick solcher Dinge ist für unsre Seele schlecht, weil sie in uns Gedanken an die Sünde wecken.“

Bibiana Beglau ist eine der markantesten und meistrespektierten deutschen Schauspielerinnen. Als „vor Energie sirrende Verwandlungskünstlerin“ beschrieb der „Stern“ sie 1999, und daran hat sich nichts geändert. Von den großen Bühnen und der Kinoleinwand kennt man sie ebenso wie als begnadete Interpretin literarischer Texte. Eigentlich wollte sie Künstlerin werden, bekam die Mappe aber nicht rechtzeitig fertig. Doch Schauspielerei ist ja auch eine Kunst. Sie schafft es, Texten immer wieder neues Leben einzuhauchen und den Staub von ihnen zu wischen.  

Dass Tartuffe kein Wüstling ist, kann man im Text belegt finden. Er bringt die Dame des Hauses, Elmire, mit Worten dazu, quasi selbst übergriffig zu werden, und offenbart sich dabei am Ende doch. Denn Orgon wurde von Elmire unter dem Tisch versteckt und erfährt, was sein scheinbar selbstloser Freund im Schilde führt: ihm die Frau wegzunehmen.

Es ist ein bitterböses Stück, doch das Ende musste Molière entschärfen. Der Klerus kam in dieser Karikatur eines Frömmlers der Zensur zu schlecht weg, deshalb gibt es am Schluss einen vom Herrscher ausgesandten Boten des allwissenden Königs, der alles wieder ins Lot bringt. Die Wahrheit des Stücks aber ist eine andere, gemeinere, und die Inszenierung schält sie heraus.

Die Zigarette ist zu Ende geraucht. Orgon alias Michael Maertens schließt sein Fahrrad auf. In der Kantine sitzt noch etwa die Hälfte der Besetzung beim Weißwein. Barbara Sukowa, Ikone des deutschen Autorenkinos, hat einen Zwischenstopp in Wien gemacht und unterhält sich mit Barbara Petritsch, die die Großmutter im „Tartuffe“ spielt. Die beiden standen schon vor einem halben Jahrhundert gemeinsam auf der Bühne. Aber es wird dann doch schon spät, und die an ein ICE-Abteil erinnernde Kantine der Burg ist nicht die Räuberhöhle der Volksbühne, wo Bibiana Beglau viele Jahre zum festen Ensemble gehörte.

Die Zeit mit Frank Castorf hat sie geprägt. 2014 wurde sie in der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift „Theater heute“ für ihre Rolle als Ich-Figur in Louis-Ferdinand Célines „Reise ans Ende der Nacht“ am Residenztheater als beste Schauspielerin geehrt. Es ist ein fragendes Ausschaben der Stoffe, bis der Kern sichtbar wird. „Wenn Castorf eine Szene aus einem dicken Roman von Dostojewski herausgriff“, erzählt Beglau, „dann war es immer eine, die einem früher beim Lesen schon nicht mehr aus dem Kopf gegangen war.“

Sie ist es gewohnt, mit großen Regisseurinnen und Regisseuren zu arbeiten: Einar Schleef, Christoph Schlingensief, Martin Kušej und nun Barbara Frey. Am Burgtheater spielt sie seit 2019, gehört zum festen Ensemble. In Wien hat sie zwar eine Wohnung, geht aber oft mit einer kleinen Tasche nach der Vorstellung direkt zum Bahnhof und springt in den Nachtzug nach Berlin. Diesmal nicht. Bibiana Beglau schiebt ihr Rennrad nach Hause, sie wird am kommenden Tag das Flugzeug nehmen.

„Schnuppern, buddeln, Möhren sammeln!“ 

Zwei Tage später begegnen wir ihr erneut, im hintersten Hof eines ehemaligen Fabrikgeländes an der Hasenheide liest sie das Kinderbuch „Hilda Hasenherz – Das Abenteuer im Fuchswald“ von Tobias Goldfarb ein. Wir sehen sie dabei nicht. Bibiana Beglau sitzt mit einer Flasche Mineralwasser in einer Kabine irgendwo in dem vollgestellten Altbau, in dem sich mehrere Studios verstecken. Es gluckst in der Monitorbox. Letzte Faxen, dann wird gelesen.

Vom Paris des 17. Jahrhunderts wechselt Beglau in einen gezeichneten Kaninchenbau, von der Hochsprache des 17. Jahrhunderts zum zeitgenössischen Kinderbuch. Wie „Tartuffe“ ist auch Hilda Hasenherz eine Geschichte geschickter, letztlich überwundener Täuschung. Baron von Ratzezahn hortet Möhren, die von nichts ahnenden Häsinnen und Hasen eingesammelt werden. Sobald er eine Million zusammenhat, wird er die Macht im Land übernehmen. „Du hast nur eine Aufgabe“, schnarrt es überzeugend autoritär aus der Box: „Schnuppern, buddeln, Möhren sammeln!“  

Der hier eingelesene erste Band von Hilda Hasenherz ist eine Geschichte der Selbstermächtigung: Die Häsin Hilda Hasenherz emanzipiert sich von ihrem Dasein als Möhrensucherin und wagt das Unmögliche. „Kein Hase kann auf die andere Seite des Falkenfeldes hoppeln!“, wird sie von Beglau gewarnt, die ja zugleich die Adressatin dieser Warnung ist und überhaupt ganz mühelos zwischen den Figuren hin- und herwechselt. Der Tonmeister lacht, und das nicht zum letzten Mal.

Die Herausforderung beim Kinderbuch-Einlesen ist weniger die komplexe Psychologie der Figuren, die Kinder unterhalten sollen. Es geht darum, unterschiedlichen Charakteren (und Spezies) eine eigene Stimme zu geben – und dabei doch darauf zu achten, dass es „eine Hörbucherfahrung bleibt“, wie der Autor Tobias Goldfarb es ausdrückt, also kein Hörspiel zu veranstalten, für das man mehrere Sprecher braucht – ein solches gibt es von dem Buch bereits.

Goldfarb hat sich Bibiana Beglau selbst ausgesucht, die beiden sind befreundet. Bibiana Beglau wird das ganze 160 Seiten lange Buch an diesem Tag einlesen. Nach einer Stunde ist man bei der Produktionsfirma Die Gehörgäng bereits im siebten Kapitel angelangt. Während am Theater wochenlang geprobt und Texte seziert werden, wirft sich die 54-Jährige nun unbefangener in den Stoff hinein. Es gibt zwar den Autor, der sporadisch Hinweise gibt, aber keinen Regisseur im engeren Sinne.

Die Interpretation der Charaktere bleibt Beglau überlassen, und es ist faszinierend, dem Werden des Hörbuchs live zuzusehen. Der Igel Ingromir etwa ist in ihrer Fassung osteuropäisch angehaucht. Und Prinz Lämpchen? „Der ist aus dem Osten, wie ihr vielleicht schon gemerkt habt, und hat dort früher DEFA-Jugendfilme gedreht.“

Der Tonmeister gibt zu bedenken, dass man nicht „ick“ sagen kann, während man andere Wörter Hochdeutsch spricht, aber mit falscher Authentizität muss man der Künstlerin nicht kommen. „Ich mache hier ja gerade Volksbühnen-Berlinerisch“, erklärt Beglau. Der leicht nölige Ost-Berliner Frank Castorf scheint durch, anverwandelt und umverwandelt.

Das ist das Ergebnis von mehreren Jahrzehnten Schauspielerei an den wichtigsten Bühnen Deutschlands. Ferdinand Céline und Dostojewski hallen in dieser Kinderbuchvorlesestimme nach, die doch ganz unbeschwert ist und kein bisschen staatstragend. Dann hat die Eule ihren Auftritt. „Schuhuhu!“, kommt es aus der Box. „Soll ich noch andere machen?“

„Ja“, sagt der Autor. „Vielleicht eins, das noch gefährlicher klingt.“

„Schuhuhuhuhuuhh! Schuuhuhuh. Schuhhhuuuuhuu!“

Als Nächstes wird sie Thomas Bernhard lesen.

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