1. Die Bestsellerliste
Heute kennt sie jeder, damals war sie ein absolutes Novum. 1927 veröffentlichte die „Literarische Welt“ die erste Bestsellerliste in Deutschland. Eine solche Auflistung der meistverkauften Bücher sei in England und Amerika bereits „einschlägig“ und ihr statistischer und kulturhistorischer Wert sei „offensichtlich“, befand die „LW“. Natürlich stand den Charts damals noch kein elektronisches Media-Control-Verfahren zur Verfügung, Buchhandlungen in ganz Deutschland wurden gebeten, ihre Aufstellung über die meistgekauften Bücher per Postkarte einzusenden („Franko-Karten werden von uns zur Verfügung gestellt“). Bestseller Nummer 1 im September 1927 war übrigens Hermann Hesses „Steppenwolf“, damals gerade bei S. Fischer erschienen. Für „die beste, kürzeste und prägnanteste deutsche Übertragung der englischen Bezeichnung ‚Best-seller‘“ lobte die „LW“ sogar einen Preis von 100 Reichsmark aus. Prämierte Lösungen sind nicht überliefert.
Fun Fact: Regelmäßige Bestsellerlisten erschienen in Deutschland dann erst wieder seit 1972, im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“.
2. Umfragen
„Darf der Dichter in seinem Werk Privatpersonen porträtieren?“, „Soll das Goethe-Jahr gefeiert werden?“, „Warum werden Ihre Bücher viel gelesen?“. Viele „Rundfragen“, die Willy Haas in den 1920er Jahren veranstaltete, sind bis heute aktuell, ganz egal, ob sie Themen wie Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht, Jubiläen oder Erfolgsdeutungen betreffen. Bis heute gehören Umfragen, nicht zu verwechseln mit repräsentativer Demoskopie, zu den beliebtesten Formaten im Journalismus. Stimmungsbilder und Stellungnahmen suggerieren nicht nur, sondern sie praktizieren eine Vielfalt der Perspektiven im Journalismus, die es bei vielen Themen braucht. Natürlich hat die „Literarische Welt“ Umfragen nicht im Alleingang erfunden – die Gepflogenheit der modernen Massenmedien, Faktoren wie Prominenz und symbolische Meinungsführer geltend zu machen, begann schon um 1900. Doch kaum eine Zeitschrift der Weimarer Republik wurde sehr mit Umfragen identifiziert wie die „Literarische Welt“.
Fun Fact: Von Thomas Mann über Robert Musil bis Stefan Zweig oder Ernst Toller: Kein Promi ließ es sich nehmen, an Umfragen teilzunehmen, etwa zur Frage, ob man besser enthaltsam oder auf „Stimulantien“ schreibt. Musil etwa schwor auf „Kaffee und Rauchen“.
3. Die Forumsidee
Der Hang zum facettenreichen Stimmenbild fand nicht im luftleeren Raum statt oder als Spiel in einer Promi-Blase, sondern in Weimarer Verhältnissen. In Zeiten, in denen Kulturkämpfe und aufgeheizte Meinungen sich wie Gift in die Öffentlichkeit fraßen, boten die Rundfragen der „Literarischen Welt“ einen neutralen Treffpunkt. Eine „Zeitung der offensten Diskussion“ wollte man sein. Forderungen nach Parteilichkeit – heute würde man wohl sagen: „Haltung“ und „Positionierung“ – lehnte Willy Haas kategorisch ab. „Es ist sinnlos, wenn eine Wochenschrift von vornherein und programmatisch mit dem Anspruch auftritt, ein Praeceptor Germaniae zu sein“, schrieb der Herausgeber in einem Editorial an die Leser 1926.
Fun Fact: Wo immer Argumente durch Meinungen und bloße Bekenntnisse ersetzt wurden, lehrt die historische „Literarische Welt“ den Wert eines lagerübergreifenden, bürgerlichen Journalismus.
4. Die Aussöhnung
Verständigung mit Frankreich in Zeiten, in denen man sich in den nationalen Kreisen der frühen 1920er-Jahre als Frankreichversteher verdächtig machte? Die „Literarische Welt“, die ein französisches Journal („Les Nouvelles Littéraires“) zum Vorbild hatte, war dem Erzfeind in einer Weise zugetan, wie es sich für Geistesmenschen von selbst verstehen sollte, aber nach dem Ersten Weltkrieg alles andere als selbstverständlich war. Unter dem Titel „Fünfzehn Jahre später“ lancierte die „LW“ 1929, also vom Kriegsausbruch 1914 her gerechnet, eine „deutsch-französische Rundfrage“, bei der Intellektuelle beider Nationen aufgefordert waren, zu überlegen: „An welcher Stelle halten Sie eine vorläufige Annäherung, die später vertieft werden kann, am besten für möglich?“ Schon mit ihrer allerersten Nummer vom 9. Oktober 1925 fragte Willy Haas bei Franzosen: „Was verdanken Sie dem deutschen Geist?“
Fun Fact: Marcel Proust wurde der deutschen Öffentlichkeit der Weimarer Republik nicht zuletzt durch die „Literarische Welt“ nahegebracht. Unter anderem schrieb Walter Benjamin in der „LW“ „Zum Bilde Prousts“.
5. Das Who-is-Who-Prinzip
Walter Benjamin, Max Brod, Gottfried Benn, Hedwig Courths-Mahler, Alfred Döblin, Franz Hessel, Hugo von Hofmannsthal, Ernst Jünger, Egon Erwin Kisch, Heinrich Mann und Thomas Mann, Alfred Polgar, Ina Seidel, Kurt Tucholsky, Robert Walser, Stefan Zweig. Man kommt kaum an ein Ende, wenn man aufzählen will, welcher illustre Personenkreis für die historische „Literarische Welt“ geschrieben hat. Bereits 1911/12, als Jura-Student in Prag, gab Haas die „Herderblätter“ heraus, eine Literaturzeitschrift, in der Brod, Kafka, Franz Werfel und auch Robert Musil ihre ersten Texte veröffentlichten. Der Herder-Verein (benannt nach Johann Gottfried Herder, dem Aufklärer der Goethe-Zeit) wollte Tschechen, Juden und Deutsche kulturell enger verzahnen, eine im damaligen Prag der eskalierenden Nationalitätenkonflikte dringend gebotene Idee. Willy Haas hat später oft gesagt, dass er die Netzwerke, die er aus dem Prag der 1910 Jahre mitbrachte und im kosmopolitischen Berlin der 1920 Jahre ihren Höhepunkt fanden, nach dem Exodus durch den Nationalsozialismus nicht wiederholen konnte.
Fun Fact: Sogar der tote Kafka publizierte in der „Literarischen Welt“. Dank Max Brod, den Haas aus Prag kannte, erblickte manche unveröffentlichte Kafka-Notiz posthum das Licht der Öffentlichkeit.
6. Das Leichte …
Der Mensch lebt nicht vom Text allein – und Literaturjournalismus nicht allein von Buchbesprechungen. „Lebendiges und Lebensnahes“ wollte die „Literarische Welt“ ihren Lesern programmatisch bieten. Es gab Ratgeber-Formate wie Lektüreempfehlungen für die Sommerfrische, Geschenktipps für Weihnachten oder lustige Listen („Die Technik des Schriftstellers in dreizehn Thesen“ von Walter Benjamin“). Das Blatt bemühte sich, Literatur nicht nur in Form von vollendeten Werken und Rezensionen, sondern auch in Form von Werkstattblicken anschaulich zu machen. „Was arbeiten Sie?“, wurden Musil, Hofmannsthal, Brecht, Sternheim, Döblin und viele andere gefragt. Der Formenreichtum und die Fähigkeit, Leser zu überraschen, zeichnen guten Journalismus bis heute aus. Auch grafisch wagte man Originelles: Mal präsentierte man eine Landkarte der literarischen Welt, mal lud man zum seitenfüllenden „Gesellschaftsspiel für lange Herbstabende“, mit Feldern wie bei „Mensch ärgere dich nicht“. Es gab Preisausschreiben, Bilderbogen und Vorformen des heutigen Livetickers („Zwanzig Stunden Romanisches Café“).
Fun Fact: Bildsatiren wie die Reihe „Berühmte Bärte lebender Schriftsteller“ (von Ottomar Starke) lassen sich als Vorläufer der heutigen Meme-Kultur lesen.
7. … und das Tiefe
Das Verspielte, Beiläufige, auch das scheinbar Banale (eine Umfrage wollte wissen: „Was die kleinen Mädchen der Berliner Straßen lesen“) funktioniert immer dann am besten, wenn es sich mit Tiefe paart. Dahingehend bot die „Literarische Welt“, was gute Medien bis heute bieten sollten. Essays und Kritik, aber auch Hintergründe und Themen-Specials. Mal war es „Katholische Literatur“, mal „Die Jugend“. Mal ging es um die „Probleme der Übertragung von Lyrik in fremde Sprachen“, mal um „Rechts und Links“. Auch Dichterjubiläen und Gedenktage wurden in der „Literarischen Welt“ mit besonderer Hingabe kultiviert, über das Feld der Literatur hinaus. Zum 100. Todestag Beethovens schrieben Komponisten wie Kurt Weill und Maurice Rauvel.
Fun Fact: Weil Willy Haas vom „Filmkurier“ kam, konnte er für zum Thema „Prägende Kindheitslektüren“ sogar Charlie Chaplin als Autor verpflichten.
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