Ob bei dem Mord an Charlie Kirk, der Erschießung eines Konzernchefs für Krankenversicherungen durch Luigi Mangione oder der Amokfahrt auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt – oft überschattet die mediale Suche nach den mutmaßlichen Motiven die Tat selbst. Da wird die Familie des Täters beleuchtet, werden die Nachbarn befragt („Er war höflich und unauffällig, hat immer im Treppenhaus gegrüßt.“) und der Social-Media-Auftritt durchkämmt, immer auf der Jagd nach dem Indiz, das den ideologischen oder wenigstens doch psychologischen Schlüssel zum unerwarteten Gewaltausbruch bietet. Doch was ist, wenn das fehlt? Das fragte sich vor über 80 Jahren schon der berühmte Max Frisch mit seinem Stück „Graf Öderland“, das heute – gerade am Zürcher Schauspielhaus aufgeführt – unheimlich prophetisch wirkt.

In Claudia Bossards Inszenierung sitzt Henri Mertens als Mörder mitten auf der leeren Bühne. Requisiten sind so abwesend wie das Motiv, nichts gibt hier Hinweise auf eine wie auch immer geartete soziale oder psychologische Situiertheit. Man tappt im Dunkeln, auch als Zuschauer. Nur die Anklage ist unstrittig, zu erkennen am grellorangenen Overall, der in der medialen Repräsentation die klassischen Streifen in der Sträflingsbekleidung abgelöst hat (Kostüme und Bühne von Romy Springsguth).

Was wissen wir über den Mörder? Nicht viel. Er war Angestellter einer Bank, und das über viele Jahre („höflich und unauffällig“), bis er eines Tages den Hauswart erschlägt. Mit einer Axt. Den von Thomas Wodianka gespielten Staatsanwalt treibt die eklatante Abwesenheit eines Motivs in die Verzweiflung. Die Sinnlosigkeit martert seinen Verstand.

Ein Mord ohne Motiv, ohne Grund, ohne Entscheidung? Mord aus Gewinnsucht, Eifersucht, Rassenwahn, das alles ist in Ordnung, das lässt sich noch erklären, heißt es im Stück. Es scheint, als würde ein Motiv vor allem für Beruhigung sorgen, indem es die Gewalt wieder in das Reich der Zweckrationalität einordnet, ins große Ordnungsmuster der bürgerlichen Welt. Doch bei Frisch und Bossard wird die Axt zur Metapher, nicht für das gefrorene Meer in uns, wie Franz Kafka über die Literatur sagte, sondern für „eine blutige Klage, die das Leben selbst erhebt“. Und außerdem für eine gespaltene Gesellschaft. „Die Axt hat nur einen Zweck: zu spalten!“ Das Ensemble zerhackt mit Äxten bewaffnet ein paar Holzblöcke, bevor es im Stück an die Menschenkörper geht.

Der sinnlose Mord hat größere Unruhen zur Folge. Und wird bei Frisch zur Metapher einer Gesellschaft, die sich in ihren grundlegendsten Zügen nicht mehr versteht, sondern mit der rasenden Suche nach einer Erklärung für die Gewalt vor allem auch selbst zu beruhigen versucht. Oder die Gewalt, wie in der politisch-theologischen Inszenierung der Kirk-Gedenkfeier in den USA, für Zwecke zu benutzen weiß, die weit über den Rahmen der Tat hinausgehen. „Noch sind wir die Herren der Lage“, heißt es gegen Ende der knapp zweistündigen Inszenierung – und da weiß man als Zuschauer längst, dass das mitnichten der Wahrheit entspricht. Doch auch die Rebellion der „Fernseher, Fernhörer, Fernwisser“ gegen das entfremdete Leben landet wieder bei der Macht.

Was einem dieser Abend sagen will? Man weiß es nicht so recht – und vielleicht wusste es Frisch bei seinem mehrfach überarbeiteten, dunkelsten Stück auch nicht wirklich. Es bleibt ein Spalt zwischen der Vorstellung, der Einzelne verhalte sich in der Gesellschaft wie die Rational-Choice-Modelle, und der Realität, die weit undurchsichtiger ist. Frischs Schauergesang (er nannte es „Eine Moritat in zwölf Bildern“) dampft Bossard ein, lässt nur einige eher mysteriöse Tableaus übrig, garniert mit ein bisschen Slapstick. Man hat den Eindruck, als wolle die Inszenierung selbst nicht in die Falle der Deutung tappen, dem Sinnlosen bloß keinen Sinn geben. Beim Zuschauen geht diese Zurückhaltung manchmal auf, verliert sich aber gelegentlich auch im Unbestimmten, gar Langweiligen.

Ob man am Ende gar nicht anders kann, als selbst das Unmotivierte im Nachhinein noch mit Gründen auszustatten? Wie in Friedrich Nietzsches Parabel „Vom bleichen Verbrecher“, der sich vor der Vernunft seines Wahnsinns schämt und deswegen den Erschlagenen noch beraubt, obwohl das nicht die Absicht war? Es ist ein großes Rätselstück, das Frisch hinterlassen hat, und Bossard maßt sich glücklicherweise nicht an, es auszudeuten.

Neben dem Alpenlandepos „Blösch“ (im Dialekt!) und Marie Schleefs Zeitlupentheater „Are You Ready To Die?“ ist „Graf Öderland“ eine der Eröffnungspremieren im Pfauen, mit denen sich die neue Intendanz aus Pınar Karabulut und Rafael Sanchez in Zürich vorstellt. Das Duo gibt sich bei seinen bisherigen Auftritten zurückhaltend und wenig provokationslustig, anders als deren nicht zuletzt an blamabler Selbstüberhöhung gescheiterte Vorgänger Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg. Die rechneten zum Abschied mit Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ mit der Stadt ab. Die neue Intendanz, nach erfolgreicher Interimsspielzeit von Ulrich Khuon, scheint hingegen erstmal wieder die Neugier wecken zu wollen.

Die nächsten Vorstellungen von „Graf Öderland“ am Schauspielhaus Zürich sind am 3., 6., 12. und 16. Oktober

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