Marco Wanda sitzt auf der Veranda eines Berliner Grandhotels und raucht. Zwei Tage zuvor hat der Wiener mit seiner Band Wanda ein Konzert in der Zitadelle Spandau gegeben. Jetzt spricht er bei einer Virgin Colada („das ist Ananas mit Kokosmilch und Schlagobers, alkoholfrei“) konzentriert und leise über Schriftsteller und Bücher.
Denn Wanda gehört zu den seltenen Bands, die Musik- und Literaturgeschichte gleichzeitig schreiben. Es war jedenfalls schon ein feiner Ritterschlag, als Rainald Goetz, bester Gegenwartsfänger unter den deutschen Schriftstellern, seine Büchnerpreis-Dankesrede vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt im Jahr 2015 mit einem Zitat aus Wandas damaligem Hit-Song „Bologna“ enden ließ: „Wenn jemand fragt, wofür du stehst / sag für Amore Amore“.
Zehn Jahre später hat der Singer/Songwriter Marco Wanda selbst ein Buch geschrieben. „Dass es uns überhaupt gegeben hat“ heißt es, ist prompt in den Top Ten der Buchcharts gelandet und liest sich wie die Poetikvorlesung einer Band. Ehrlich, ernsthaft und fast ein wenig ungläubig denkt hier ein Künstler über seinen Werdegang, die Bedeutung seiner Songs und seiner Weggefährten für Werk und Leben nach. Die Schrift des Buchtitels prangt rau und wie von einer Zigarette verkokelt auf dem hellblauen Schutzumschlag. Ein Brandmal?
Schmerzmotive durchziehen das Buch: Raubbau am eigenen Körper, aber auch Wehmut – darüber, dass das Schönste einer Karriere – erfolgreich zu sein – nie so schön sein kann wie die Phase davor: erfolgreich zu werden. Ist der Sänger Wanda, Jahrgang 1987, jetzt ein Autor? Das sei er im Grunde seines Herzens immer gewesen, sagt er, und wir kommen auf das Konzept des cantautore zu sprechen, jene Fusion aus cantante und autore (Sänger und Schriftsteller), die im Italienischen völlig selbstverständlich ist. Welche Bücher sein Leben, Lesen und Schreiben prägen, verrät er nachstehend mit eigenen Worten (Protokoll: Marc Reichwein).
Michael Ende: Die unendliche Geschichte
Eigentlich bin ich nie ein großer Leser gewesen. Ich lese bis heute nicht viel, aber dafür einige wenige Bücher immer wieder. „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende ist so ein Buch. Mit Balthasar Bux habe ich gelernt: Es gibt mehr Welten als diese eine Welt, in der ich jetzt gerade lebe, es gibt Phantásien. Ich habe mich als Kind sehr gerne in der anderen Welt aufgehalten. Und das Buch bestimmt 20-mal oder so gelesen.
Bücher sind für mich ein Anker, um mich an mich selbst zu erinnern und mit mir in Berührung zu kommen. Wenn alles zu chaotisch wird, brauche ich Momente, in denen ich mich in ein bestimmtes Buch zurückziehe. Mit meiner späteren Arbeit als Musiker hat „Die unendliche Geschichte“ nur insofern zu tun, als ich einmal versucht habe, ein Konzeptalbum zu schreiben, in dem man genauso verschwinden kann wie in der „Unendlichen Geschichte“. Das war das dritte Album, „Niente“. Das ging bis ins Cover des Albums, für das wir den Hundertwasserturm der Wiener Müllverbrennungsanlage fotografiert haben. Das war für mich die Hommage an den Elfenbeinturm in der „Unendlichen Geschichte“.
Jack Kerouac: On the road
Auch wenn ich nie viel gelesen habe, waren zwei Schriftsteller sehr wichtig für mich. Der eine von beiden ist Jack Kerouac. Von ihm konnte ich mir die Individuation als Schriftsteller abschauen. Dass dahinter die Idee einer Persönlichkeitsentwicklung steht, dieses Rollenbild, für das man sich bewusst entscheiden muss. Ich sitze, beobachte und schreibe auf, was ich erlebe. Es war dieser Lebensentwurf, der mich so fasziniert hat, dass ein Mensch, der eigentlich viel zu viel erlebt, sich als Reaktion darauf zurückzieht und es aufschreibt.
Dass ich Schriftsteller werden wollte, war bei mir nie mehr als ein diffuses Gefühl. Eher aus Verlegenheit habe ich mich für ein Studium der „Sprachkunst“ an der Wiener Universität für Angewandte Kunst beworben. Und dann haben sie mich halt aufgenommen. Robert Schindel, der damalige Studienleiter, sagte mir, ich hätte eine „Schreibpranke“. Und ich hatte bis dato auch schon einiges geschrieben. Furchtbar schlechte Sachen. Das meiste davon habe ich vernichtet. Und dennoch war mir Schreiben wichtig. Ich wusste, es wird eine Reise. Eine lebenslange Reise zu meiner Sprache.
Ernest Hemingway: Paris. Ein Fest fürs Leben
Der zweite wichtige Schriftsteller für mein eigenes Schreiben war Ernest Hemingway. „Ein Fest fürs Leben“ hat mich zu meinem eigenen Buch inspiriert. Auch Hemingway führt uns durch eine Künstlergeneration in einer bestimmten Zeit und schafft ein fast impressionistisches Porträt. Wer waren diese Leute? Wie haben sie gelebt? Wie haben sie gearbeitet? Die wurden dann alle später weltberühmt. Aber er hat sie in ihren privaten Momenten gezeigt. Und als ich das gelesen habe, war das schon eine Grundlage für mich, zu sagen. Aha, der nimmt sich und seine damaligen Bekannten so ernst und setzt ihnen ein zärtliches, rührendes Denkmal. Das wollte ich für meine Freunde auch tun. Insofern versteht sich mein Buch nicht als meine eigene Biografie, sondern die einer ganzen Generation. Ich wollte, dass alle sehen, was für ein unfassbares Talent es zu einer gewissen Zeit in Wien gab, als Bands wie Nino, Bilderbuch und Wanda plötzlich unabhängig voneinander hervortraten.
Ernest Hemingway: Tod am Nachmittag
Ich muss noch einen Hemingway-Text nennen, denn ich bin verliebt in seine Eisbergtheorie. In seinem Essay „Tod am Nachmittag“ verhandelt Hemingway nicht nur das Thema Stierkampf. Er erläutert auch, warum gute Literatur das Wesentliche weglassen sollte. Wie bei einem Eisberg, von dem nur ein Achtel über der Wasseroberfläche zu sehen ist, sollte man auch auf der Oberfläche eines Textes nicht alles ausformulieren und erklären, sondern Dinge aussparen. Denn nur so bekommt der Leser Platz, sein eigenes Gefühlsleben in einen Text zu projizieren. Und das halte ich für einen der genialsten Gedanken der Literaturgeschichte, weil das so humanistisch gedacht ist: Ausgelassenes ermächtigt den Leser. Es lässt dem Leser seinen eigenen Willen und die eigene Kontrolle über den Text. Und auch die Deutungshoheit. Wie Hemingway schreibt, indem er nichts wertet, nichts erklärt, sondern nur abbildet, hat mich sehr beeindruckt. Ich halte ihn für den größten Schriftsteller aller Zeiten.
Nino aus Wien: Kochbuch Take 16
Ein Kochbuch, wie der Titel glauben macht, ist das nicht, eher eine Art Gedichtband. Nino ist ein Musiker und Freund, aber im Herzen ein Schriftsteller. Im Kern sind alle seine Songs vertonte Gedichte, und dieses Journal versammelt Skizzen, Gedichte und tagebuchähnliche Notizen. Ninos Literatur erschafft eine eigene Welt, und ich halte mich sehr gerne in dieser Welt auf, zumal sie Witz hat. Also, Nino nimmt uns mit auf Gedankengänge. Man flaniert mit ihm durch die Welt. Zwischen den Zeilen ist es sehr gefühlvoll.
Philip Norman: John Lennon. Die Biografie
Ein Tausendseitenbuch mit weißem Cover. Ich habe es bei einem Aufenthalt in New York zu lesen begonnen. Und sofort einen Teil meiner Karriere in diesem Buch gespiegelt gesehen. Und ja, das hat irgendwie gut getan. Dass ich derartige Stürme in meiner eigenen Bandgeschichte erleben würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Aber es scheint schon ein Naturgesetz zu sein. Die Biografien großer Bands ähneln sich darin, dass alles, was toll beginnt, irgendwann schiefgehen muss. Weil Erfolg überfordernd ist. Weil es Verluste gibt. Weil es den Tod gibt (Wandas Bandkollege Christian Hummer ist 2022 gestorben, Wandas Vater 2023, Anm. d. Red.).
Mein eigenes Buch hätte ich, was den faktischen Teil betrifft, ohne die Buchhaltung meines Vaters niemals schreiben können. Er hat lauter Ordner voller Presseecho über uns archiviert. Und ansonsten hatte ich schon relativ früh in meiner Karriere das Gefühl, dass ich alles, was um mich herum passiert, durch die Brille eines Schriftstellers sehen und festhalten möchte. Roland Barthes hat gesagt, die Triebkraft aller Literatur sei, dass der Mensch nicht hinnehmen möchte, dass gewisse Dinge aus seinem Leben für immer verschwinden. Es geht also ums Bewahren.
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