Georg Stefan Troller ist am 27. September 2025 im Alter von 103 Jahren in Paris gestorben. Für die „Literarische Welt“ schrieb er seit 2021 eine monatliche Kolumne. Bis zuletzt erreichten uns seine diktierten Beiträge immer pünktlich. Für Oktober wolle er pausieren, ließ er noch wissen. So wurde diese September-Kolumne im typischen Troller-Stil ein Vermächtnis, vor allem ihr Schluss:
Jahresende 1988. Wie kann dieses vielsagende Datum meines Lebens schon so lange her sein? Immerhin habe ich ja damals das Taxi bereits an der Nordseite der Themse angehalten, um mich dem Sehnsuchtsort nach alter Pilgerart zu Fuß zu nähern. Eine der vielen viktorianischen Stahlbrücken von London trägt mich hinüber. Nämlich nach Southwark, dem uralten Gängeviertel, bestückt mit engen Lagerhäusern, von Dickens beschrieben, von Doré gemalt. In deren obersten Stockwerken riesige schwarze Zahnräder, die eintreffende Waren aus den Flussbooten an Land hieven. Ansonsten bietet das Viertel wenig, abgesehen von einem historischen Knast, der schon bei Shakespeare vorkommt. Und einer Segelkogge aus dem Mittelalter. Wohnen will hier niemand, es ist ein verrufenes Viertel. Grund genug, dass sich die lange Zeit als unmoralisch empfundenen Londoner Theater genau hier ansiedelten.
Jetzt bin ich am Ende der Brücke angelangt. Eine steile Wendeltreppe führt hinunter zum Erdboden. Und dann steht man hingerissen vor einem der ältesten Theaterbauten der Welt, dem „Globe“. Shakespeares ursprüngliches Theater von 1599, dessen Fundamente erst vor wenigen Wochen unter einem Parkplatz zum Vorschein kamen. Ein dreistöckiger Rundbau, teils Backstein, teils Fachwerk. Davor das Stehparkett der „Gründlinge“, die hier zum Preis von einem Penny die Welturaufführung von „Othello“, „Macbeth“, dem „Sommernachtstraum“ und den „Lustigen Weibern von Windsor“ zu sehen bekamen.
Und zwar unter Knacken und Rascheln, denn im Fußboden finden sich noch heute Spuren von Haselnüssen, dem Popcorn dieser Jahre. Hat irgendein Zeitgenosse die Größe des Autors erkannt? Wohl kaum, denn in den Aufzeichnungen der Bühne ist der Name des Stückeschreibers fast nie richtig buchstabiert, meistens als Shasper. Die Bühne selbst ist übrigens nicht erhalten geblieben, sie befindet sich wahrscheinlich unter dem Brückenkopf. Hingegen hat man im selben Theaterviertel den nagelneuen Nachbau eines typischen elisabethanischen Theaters erarbeitet, in dem des Meisters Stücke regelmäßig gespielt werden. Es gibt nur Nachmittagsvorstellungen, also bei Naturlicht, wie seinerzeit üblich.
Auch gab es anscheinend nichts von dem Romantischen, Stimmungsvollen, wovon die moderne Theatertechnik durchdrungen ist. Und wie wurde gespielt? Wahrscheinlich in der hohen Kirchsprache, die in Kreisen der britischen Aristokratie angesagt war. Mit langen naturalistischen Einschüben aus der Umgangssprache, vor allem in den Komödien, die ja zumeist für das „Volk“ bestimmt waren. Der Morgengruß „How now?“ wurde wohl nie von einem Hamlet oder Macbeth ausgesprochen.
Später, am Trafalgar Square, werde ich angepöbelt von einer rotschopfigen Punkerin. Und da sich bei Shakespeare alles findet, hier die entsprechende Szene aus „Maß für Maß“, 5. Akt. Herzog: „Was, ist sie vermählt?“ Mariana: „Nein, Mylord.“ „Ist sie Jungfer? Oder eine Witwe?“ „Auch nicht, Mylord.“ Herzog: „Demnach gibt es sie gar nicht, wenn sie weder Jungfer noch Witwe noch Ehefrau ist.“ Darauf Höfling Luzio: „Mylord, she may be a punk.“
Bei Sonnenuntergang letzter Spaziergang durch das gespenstische Dockviertel, das man jetzt auf schick umfrisiert. Einzige Zukunft der Wildnis: zum Zoo gemacht zu werden. Dann Abschied von Southwark. Versteckt nehme ich einen winzigen Holzspan vom alten Globe-Theater mit. Das und mein Zementbrocken vom Stammlager Auschwitz, und ich habe eine ganze Weltgeschichte.
Der Dokumentarfilmer und Schriftsteller Georg Stefan Troller, 1921 in Wien in eine jüdische Familie geboren, ist am 27. September 2025 gestorben. Zu seinen wichtigsten Werken gehören rund 1500 TV-Interviews, darunter „Pariser Journal“ und „Personenbeschreibung“. Lesen Sie hier den Nachruf von Mara Delius.
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