Das „Haus zur Sonne“ im Titel von Thomas Melles neuem Roman – es klingt idyllisch, vielleicht sogar nach Sommerfrische. Doch wer das Werk des 1975 geborenen Schriftstellers kennt, ahnt es schon, hier ist eine therapeutische Einrichtung gemeint. Denn Melles Texte rühren von existenziellen Abgründen des Menschen her, den psychischen Krankheiten. Nachdem der Schriftsteller mit seinem viel beachteten Werk „Die Welt im Rücken“ (2016) seine bipolare Störung öffentlich gemacht und dafür eine rastlos-fiebrige Ästhetik gefunden hatte, greift sein aktueller Roman, der für den Deutschen Buchpreis nominiert ist, das Thema erneut auf.
Anders als vermutet hat der Autor sein psychisches Leiden in den vergangenen Jahren nicht überwinden können. Seinem autobiografisch inspirierten Ich-Erzähler zufolge wurden die Manien sogar noch länger – und die depressiven Phasen noch schlimmer. Eine von zahlreichen treffenden Metaphern beschreibt diese „Katastrophe“ als „dickflüssig wie Honig, der sich dann verhärtet zu einer Art Harz, in den Adern, den Nerven, bis wieder die totale Lähmung eintritt.“ Danach geht nichts mehr, der Protagonist ist schon zu Beginn des Romans am Ende. Er will sterben.
Hilfe in einem Sanatorium
Wie gut, dass es zumindest im neuen fiktionalen Setting ein Sanatorium gibt, das professionelle Hilfe anbietet. Zum Portfolio der Einrichtung gehört neben einem sogenannten angenehmen Suizid auch ein Verwöhnprogramm der besonderen Art: Mithilfe neuester Technik können die Klienten (ein netter Euphemismus für Patienten) in Simulationen eintauchen. Alles scheint möglich im virtuellen Schlaraffenland. Man darf Rockstar sein und durch die Menge gleiten oder eine Traumhochzeit feiern. Selbst in die Rolle eines Staatenlenkers kann man schlüpfen. Dienen derartige Immersionen der Heilung oder doch eher der Ablenkung? In jedem Fall sollen sie den Schmerz betäuben.
Sich an ihm abzuarbeiten, ist eine Konstante in der zeitgenössischen Literatur, die den Schmerz in seinen physischen und psychischen Varianten vielfach thematisiert. Von David Wagners „Leben“ (2013), über Urs Faes’ „Halt auf Verlangen“ (2017) bis hin zu Jan Kuhlbrodts „Krüppelpassion“ (2023) reichen die Beispiele für körperliche Erkrankungen. Hinzu kommen die psychischen Leiden. Neben der Demenz, verarbeitet in Arno Geigers „Der alte König in seinem Exil“ (2011) oder Ron Segals „Jeder Tag wie heute“ (2014), sind Texte über Depressionen zu einem Topos geworden.
Was alle Texte eint, ist zuvorderst das Ringen um die bedrohte Identität. „Schmerz greift das Selbst an, zersetzt dessen Bild und unterwirft das Ich. Schmerz schmeißt Narziß raus, trägt sich an dessen Stelle ins Weltbild ein und reorganisiert das Ich.“ Das schreibt der Philosoph Boris Wandruszka („Philosophie des Leidens“).
Was macht die Krankheit aus einem? Wie viel Selbst lässt sie übrig? In Benjamin Maacks Buch „Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein“ (2020), einer traurig-beklemmenden, berührenden Chronik eines Psychiatrieaufenthalts anlässlich chronischer Depression, ist die Rede von „Zahnbohrerheulen in einem leeren Kopf“.
Auch Thomas Melles Ich-Erzähler umkreist die psychische Pein, kann nicht fassen, was in ihm vorgeht und jede Kreativität zerstört: „Ich hatte mich bei der Niederschrift des Buches noch einmal mit aller Kraft gegen die Krankheit gestemmt – und verloren. Mein Talent kam gegen die Krankheit nicht an, sie war stärker gewesen, am Ende.“ Die erzählerische Form für die geistige Erstarrung erweist sich in „Haus zur Sonne“ als konsequent und ermüdend zugleich. In unzähligen Wiederholungen dreht sich der Protagonist in einer Spirale aus Ohnmacht und Todessehnsucht. Dies lässt Melles Roman sowohl zäh als auch authentisch erscheinen. Denn seine Sogwirkung macht uns zu Mitfühlenden, vermittelt Empathie in einer Zeit, die dieses Gefühlt allzu oft verlernt hat.
Damit stellt Melle auch einen wichtigen kulturgeschichtlichen Mechanismus des Schmerzes heraus. Bereits im Martyrium Jesu angelegt, birgt die Passion das, was englisch compassion heißt. Die Wunde gleicht einem symbolischen Eingang zum Gegenüber, geöffnet für alle, die das Leid zu teilen bereit sind. Der Philosoph Byung-Chul Han schrieb in seinem Essay „Palliativgesellschaft“ (2020): „Schmerz ist Bindung. Wer jeden schmerzhaften Zustand ablehnt, ist bindungsunfähig.“ So einsam sich Thomas Melles literarisches Alter Ego innerhalb der Geschichte fühlt, so nah sind ihm hingegen seine Leser – eine Beobachtung, die wohl auf die meiste Schmerz-Prosa unserer Tage zutrifft.
Das virtuelle Schlaraffenland des Sanatoriums kommt dem Anti-Helden in Thomas Melles Roman zunehmend wie ein Gefängnis vor, Erlösung oder Genesung rücken in eine hypothetische Ferne. Je weiter man liest, desto unklarer wird allerdings, was wirklich ist und was bereits Traum oder Simulation. Dementsprechend könnte der späte Ausbruch auf Einbildung basieren. Dieses Jonglieren mit der Realitätserfahrung birgt – bei aller Trübsal – auch etwas Schöpferisches. Schmerz und Gebrechen öffnen neue Räume des Erzählens. Gerade die künstlich hervorgerufenen, halluzinatorischen Szenarien verleihen Melles Roman einige rauschhaft-spielerische Momente und überlagern die latent zu vielen Wunschtraum-Abschweifungen des Romans.
Gerade weil der Erzähler der Realität entrückt scheint, wirft sein Text die Frage nach Gewissheiten auf. Erst der Schmerz bringt uns auf ihre Spur, wenn man einigen weisen Versen der 2023 verstorbenen Literaturnobelpreisträgerin Louise Glück Glauben schenkt: „Verzweiflung ist die Wahrheit. Das ist, was / Mutter und Vater wissen. Alle Hoffnung ist dahin. / Wir müssen zurück, wo sie verloren ging, / wollen wir sie wiederfinden“. Alle Krankheit vermittelt uns das Glück von Hoffnung auf Gesundheit und Genesung. Ohne sie wäre das Gute eine Phrase, auch und gerade in der Literatur.
Thomas Melle: Haus zur Sonne. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 320 Seiten, 24 Euro.
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Haben Sie suizidale Gedanken, oder haben Sie diese bei einem Angehörigen/Bekannten festgestellt? Hilfe bietet die Telefonseelsorge: Anonyme Beratung erhält man rund um die Uhr unter den kostenlosen Nummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222.
Auch eine Beratung über das Internet ist möglich unter http://www.telefonseelsorge.de. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.
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