Das Filmfestival von Venedig ist am Samstagabend mit der Preisverleihung zu Ende gegangen. Was soll man sagen, allmählich wird es hier gute Tradition, die gelungeneren Filme links liegenzulassen und mit einer originellen Auswahl zu überraschen: Den Goldenen Löwen erhielt Jim Jarmusch für sein albern-ehrgeizloses Triptychon „Father Mother Sister Brother“. Den Großen Preis der Jury nahm Kaouther Ben Hania für ihr halbdokumentarisches Gaza-Drama „The Voice of Hind Rajab“ entgegen. Die Jury bestand aus den Regisseuren Alexander Payne, Cristian Mungiu, Mohammad Rasoulof, Stéphane Brizé und Maura Delpero sowie den Schauspielerinnen Fernanda Torres und Zhao Tao.

Angeblich war es in den Diskussionen hoch hergegangen, und die Brasilianerin Torres hatte gedroht, sich zurückzuziehen, wenn Ben Hanias auf einem realen Fall beruhender Film über ein kleines Mädchen, das während israelischen Beschusses in einem Auto festsitzt, ohne dass palästinensische Sanitäter zu ihm vordringen können, keinen Hauptpreis erhalten würde. Jurypräsident Alexander Payne trat dem nach der Preisverleihung explizit entgegen; die Gerüchte stimmten nicht, sagte er.

Allein dass ein solches Statement nötig war, verdeutlicht die hitzige Atmosphäre, die auch Zuschauer und Kritiker in den Tagen seit der Premiere von „The Voice of Hind Rajab“ gespürt hatten. Die Standing Ovations sollen mit rund 23 Minuten die längsten gewesen sein, die es in Venedig je gegeben hat. Der Film ist berührend – wie könnte es anders sein? Die eingespielte Stimme der Fünfjährigen, die im Fond eines Wagens, umgeben von sechs toten Familienangehörigen, nach Stunden verzweifelter Versuche, sie zu befreien, schließlich stirbt, ist echt. Das Mädchen ist in Wirklichkeit gestorben, ohne dass die Ambulanz, theoretisch nur acht Fahrminuten entfernt, zu ihr durchdringen konnte. Erst dauerte es eine Ewigkeit, bis der Rote Halbmond im Westjordanland von der israelischen Armee grünes Licht bekam, dann wurde die Ambulanz durch Beschuss zerstört. Hind Rajab und die Sanitäter kamen ums Leben. Die israelische Armee bestreitet die Schuld. Eine Untersuchung der Tragödie, die sich am 29. Januar vergangenen Jahres abspielte, fand bis heute nicht statt.

Der Film gibt sich als nüchternes Dokument aus, als Reenactment mit den Originalaufnahmen des Mädchens, geschildert aus der Perspektive der Mitarbeiter des Roten Halbmonds. Er verzichtet auf spannungssteigernde Effekte durch Musik oder schnelle Schnitte und lässt die Geschichte vorgeblich durch sich selbst wirken. Allerdings verzichtet er ebenso auf jede Kontextualisierung. Warum die Familie in dem umkämpften Gebiet überhaupt unterwegs war, Stunden nachdem die Israelis wegen des bevorstehenden Angriffs zur Evakuierung aufgerufen hatten, bleibt im Dunkeln. Auch die Gründe, warum die israelische Bürokratie es den Sanitätern so schwer macht, zu dem Mädchen vorzudringen, bleiben den Zuschauern vorenthalten: Immer wieder nutzt die Hamas etwa Ambulanzen, um ihre eigenen Kämpfer zu transportieren. Gleiches gilt für den größeren Kontext – die nach wie vor nicht freigelassenen Geiseln des 7. Oktober und die fortgesetzte Aggression der Hamas, ohne deren fürchterlichen Angriff auf Israel die ganze Situation nicht bestünde, lässt der Film außen vor.

Israel tritt nur als ferne Gewalt in Erscheinung, reduziert auf Schüsse und Explosionen und als unmenschliche Bürokratie. Diese Reduktion verleiht dem Film eine moralische Klarheit, die emotional zwingend wirkt, aber auf gefährliche Weise verzerrt. Indem nichts Falsches gesagt wird, sitzt jeder Einwand automatisch auf der Anklagebank. Doch in Wahrheit ist es der Film, der relativiert, indem er den politischen Horizont auf die Vernichtung von Unschuld reduziert.

So sehen ihn die einen, allen voran die tunesische Regisseurin, als „Stimme von Gaza selbst, die um Hilfe rief“, während er den anderen als fragwürdiges Propagandawerk erscheint, dazu filmisch dürftig, mit dessen politischer Dringlichkeit die Juroren erpresst wurden. So kam der Große Preis der Jury, effektiv der zweite Preis in Venedig, für „The Voice of Hind Rajab“ keineswegs überraschend – und geht doch auf Kosten von Wettbewerbern, die es künstlerisch weit mehr verdient hätten.

Jarmuschs „Father Mother Sister Brother“, der den Goldenen Löwen bekam, gehört nicht dazu. Die minimalistische Versuchsanordnung über dysfunktionale Familien in Form dreier Kurzfilme, verbunden durch ein paar zufällig erscheinende Motive, war einer der ödesten Beiträge im aus insgesamt 21 Kandidaten bestehenden Feld. Zwar starbesetzt – mit Charlotte Rampling, Tom Waits, Cate Blanchett, Adam Driver und Vicky Krieps –, macht er indes so wenig aus seinem ohnehin spärlichen Material, dass man sich fragen konnte, ob Jarmusch nicht einfach ein paar Wochen durch die Gegend gondeln und bei der Gelegenheit in regionale Fördertöpfe greifen wollte; gedreht wurde in Dublin, Paris und den USA. Die drei Kurzgeschichten sind von raymond-carveresker Einsilbigkeit und laufen im besten Fall auf Pointen hinaus, mit denen sich die Improgruppe eines zweitklassigen Schultheaters schmücken könnte. Meistens verlaufen sie aber einfach im dramaturgischen Nirgendwo.

Fans der Klassiker des Autorenfilmers – „Stranger Than Paradise“, „Night on Earth“, „Dead Man“ oder „Only Lovers Left Alive“ – mögen sich fragen, ob dieses Urteil nicht zu hart scheint. Leider nicht, da wird sich spätestens beim unweigerlichen Kinostart jeder selbst überzeugen können.

Die weiteren Auszeichnungen: Der Silberne Löwe für die beste Regie ging, voll in Ordnung, an Benny Safdie für das Boxerdrama „The Smashing Machine“ , während Gianfranco Rosi mit der beflissen-einschläfernden Neapel-Studie „Below the Clouds“ den Spezialpreis der Jury gewann. Das Drehbuch-Duo Valérie Donzelli und Gilles Marchand wurde für „À Pied d’œuvre“ ausgezeichnet, einen formal eher auf Fernsehlevel gestalteten, aber inhaltlich und schauspielerisch überzeugenden Beitrag über die Nöte eines Schriftstellers in der Gegenwart. Die Volpi-Cups für die beste schauspielerische Leistung sicherten sich Toni Servillo für Paolo Sorrentinos Eröffnungsfilm „La Grazia“ sowie Xin Zhilei für „The Sun Rises on Us All“, wogegen sich nichts sagen lässt. Den Marcello-Mastroianni-Preis für den besten Nachwuchs nahm die Schweizerin Luna Wedler für „Silent Friend“ mit nach Hause.

Diesem Film der ungarischen Filmemacherin Ildikó Enyedi hätte man größere Aufmerksamkeit gewünscht. Am vorletzten Tag ereignete er sich wie ein kleines Wunder, eine so intelligente wie poetische Verschränkung verschiedener Zeitebenen und Schicksale, eine Art „Cloud Atlas“ für Erwachsene.

Zuvor hatte das Festival so viele unzuverlässige Erzähler erlebt: Paul Dano, der in Olivier Assayas’ „The Wizard of the Kremlin“ Vadim Baranov spielt, einen fiktiven, aber stark an den realen Kreml-Spin-Doktor Vladislav Surkov angelehnten politischen Strippenzieher, einen maßgeblichen Steigbügelhalter Wladimir Putins. Dano tut, was er am besten kann: schmallippig gucken und unterschwellig Unheil signalisieren – diesmal eben im Kreml statt in texanischen Suburbs.

Oder „Bugonia“ von „Poor Things“-Regisseur Yorgos Lanthimos. Ein Verschwörungstheoretiker (Jesse Plemons) hält Emma Stone für eine Außerirdische, angetreten, die Menschheit zu vernichten. In einem verstörenden Torture-Porn wird sie erst gekidnappt und dann im Keller mit Stromschlägen malträtiert. Als sie nach 400 Volt immer noch lebt, bereitet ihr beeindruckter Folterknecht ein üppiges Abendmahl: „Ich hatte ja keine Ahnung, dass Ihr der andromedanischen Aristokratie angehört!“ Emma Stone widerspricht vehement, aber es mehren sich die Ungereimtheiten.

Nicht ganz klar ist die Situation auch in Kathryn Bigelows „A House of Dynamite“: An der Existenz der Atomrakete, die auf Chicago zurast, zweifelt zwar niemand. Aber wer hat sie abgeschossen – die Russen, die Chinesen, die Nordkoreaner? Der amerikanische Präsident (Idris Elba) hat nur wenige Minuten, um zu entscheiden, ob er die Welt in einen nuklearen Krieg stürzt. Die Apokalypse wird hier zum Verwaltungsakt.

Ein zentraler Zweifel bestimmt auch Guillermo del Toros Lebensprojekt „Frankenstein“: Wie in Mary Shelleys Roman, von dem sich der Film nur wenige Schlenker erlaubt, gibt eine Hälfte die Perspektive von Doktor Frankenstein (Oscar Isaac) wider, die andere die der Kreatur (Jacob Elordi). Natürlich widersprechen sie einander. Die Frage lautet: Wer ist hier der Mensch und wer das Monster?

Dagegen ruht Enyedis Erzähler buchstäblich in sich, ist ein stiller und zugleich absolut vertrauenswürdiger Chronist: ein uralter Ginkgo-Baum im botanischen Garten der Marburger Universität, der alles hat kommen und gehen sehen. Die Erzählung entfaltet sich in Form dreier Zeitkapseln.

1908 richtet die erste Studentin der Universität ihre Kamera auf die Blätter und Blüten, als wollte sie den geheimen Code der Welt abpausen. 1972 findet eine junge Frau Halt in einer Geranie und in einem schweigsamen Kommilitonen. 2020 schließlich experimentiert ein Neurowissenschaftler aus Hongkong mit dem Baum selbst. Unter Anleitung von Léa Seydoux als per Zoom zugeschalteter Botanikerin versucht er, Signale des Baumes mit dem menschlichen Bewusstsein zu verknüpfen. Dafür stöbert er in einer Ecke des Gartens sogar psychedelische Kakteen auf.

Jarmusch in Cannes abgelehnt

Das klingt esoterisch, ist aber von erstaunlicher Leichtigkeit: Enyedi erfindet den Vegetabil-Feminismus und schafft ein bezauberndes, still überwältigendes Kinoerlebnis. Dass es sich um eine mehrheitlich deutsche Produktion handelt, macht die Sache noch kurioser: gedreht in Marburg, finanziert aus deutschen Fördertöpfen, neben Luna Wedler mit Marlene Burow, Sylvester Groth und Martin Wuttke – und mittendrin der Hongkong-Hero Tony Leung.

Extrem schade auch, dass Altmeister Park Chan-wooks „No Other Choice“, wie sich Payne bei der Preisverleihung bizarrerweise entschuldigte, es nicht mal in die Auswahl der letzten acht geschafft hatte: eine Metapher, genial übertragen in die filmische Wirklichkeit. Ein Papieringenieur geht buchstäblich über Leichen, um in der Arbeitswelt zu überleben – satirische Groteske, zeitgemäßer Fiebertraum und der nicht unsympathisch kalkuliert wirkende Versuch, an den Erfolg von „Parasite“ anzuknüpfen.

Für alle, die bis jetzt drangeblieben sind, noch eine pikante Pointe: Nach allem, was man hört, hat Cannes Jarmusch im Frühjahr abgelehnt beziehungsweise wollte ihn bestenfalls in einer Nebenreihe zeigen. Diese Nachricht versöhnt ein wenig. Die Welt ist offenbar noch nicht vollständig verrückt geworden.

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