So schnell kann es in der Oper gehen: Eben war ich noch ein unbescholten-ehrbarer Bürger im Frack, mit Zylinder, Weste, Silberknaufstock und Krawattennadel. Ohne jede Biografie. Eine Figur im Hintergrund. Dann hatte ich plötzlich eine ziemlich lustige Witwe als neue Frau an meiner Seite und saß ganz vorn im Café, gleich neben Micaela und Don José. Und einen Akt später gab es auch eine bisher unbekannte Tochter, die ich von ihrem Schritt vom tugendhaften Wege hin auf die schiefe Flamenco-Bahn in einem zweifelhaften Etablissement namens Lilas Pastia abzuhalten hatte. Natürlich vergeblich.

Hallo, ich bin zurück im Scheinwerferlicht! Ich atme wieder Bühnenluft, neuerlich im Kostüm auf der Szene. Der größten der Welt, 106 Meter breit, 34 Meter tief, unter freiem Italienhimmel in der Arena di Verona. Und 10.000 Zuschauer jubeln – nicht für mich. Aber irgendwie doch auch. Denn am Ende, die gerade noch ermordete Hauptdarstellerin verbeugt sich fröhlich, sind wir zu einer großen Theaterfamilie zusammengeschmolzen – zehn Solisten, 150 Choristen, 30 singende Kinder, 40 Tänzer, 120 Mimen, Akrobaten und Statisten. Die machen das hier freilich im Sommer fast jeden Abend. Ich aber kann nun auch noch die vor sechs Jahren verstorbene Regielegende Franco Zeffirelli samt ihrer 30 Jahre alten „Carmen“-Inszenierung in die Biografie meiner Statistenkarriere einschließen.

Die schien eigentlich schon vor 35 Jahren beendet, einfach ausgelaufen an der Bayerischen Staatsoper, weil ich professionell zu schreiben begonnen hatte, nicht mehr einen Abend auf der Bühne stehen und am nächsten im Parkett rezensieren konnte. Ohne Reue passierte das allerdings, etwa zehn Jahre war es eine schöne, aufregende Zeit gewesen, ein prima Schüler- und Studentenjob, bisweilen beinahe üppig bezahlt, mit flexiblen Arbeitszeiten und abwechslungsreichen Aufgaben und überraschenden, für mich durchaus prägenden Perspektiven.

Schließlich habe ich in uralten Repertoire-Hits mitgespielt, aber auch in Neuinszenierungen von Jean-Pierre Ponnelle, Götz Friedrich, Harry Kupfer, August Everding, Kurt Horres, Giancarlo del Monaco und Pier Luigi Pizzi (mit 95 immer noch aktiv) – sowie in vielen Balletten. Ich war halbnackt in einem Riesenbadezuber mit der damals ebenfalls noch als Statistin agierenden Veronica Ferres und in einer Koproduktion mit dem Bolschoi zwischen echten KGB-Agenten. Ich habe Kurt Moll getragen und Edita Gruberova assistiert, Hildegard Behrens bewacht und in der „Götterdämmerung“ Tango getanzt – bis die Szene vor der Premiere gestrichen wurde. Ich war ein „Macbeth“-Geisterkönig unter Riccardo Muti – mit Nennung im Programmheft – der Haushofmeister in „Schwanensee“ und der Tambourmajor am Ende des zweiten „La Bohème“-Aktes. Diese Otto-Schenk-Inszenierung von 1968 spielen sie in München noch immer; ebenfalls die „Traviata“, der 1993 meine erste Festspielpremierenkritik galt.

Oper kann sehr langlebig sein. Und so passte es perfekt, jetzt auf Einladung der Veroneser Intendantin Cecilia Gasdia, selbst eine einst berühmte Sängerin, noch einmal beim seit 103 Jahren größten Opernspektakel der Welt dabei sein zu können. Aus vertrautem, aber lange so nicht mehr erlebten Blickwinkel.

Das größte Opernfestival der Welt

Maße und Schuhgröße waren schon vorher abgefragt worden, ich finde mich ganz unkompliziert zwei Stunden vor Vorstellungsbeginn am Tor 17 des 1995 Jahre alten Gemäuers ein. Auch die sechs Pferde und vier Esel, die später ordentlich zu tun haben werden, stehen da; Gänse und Ziegen (die besonders gut im Takt marschieren konnten) sind schon lange nicht mehr dabei. Alles ist noch ruhig in den Katakomben, wo sonst wilde Tiere und Gladiatoren auf ihre eher blutigen Auftritte warteten. Heute ist hier niemand mehr todgeweiht, es wird höchstens mal gebuht.

Und natürlich hat es, Veronas Alpenrandlage-Nemesis, gerade noch einmal heftig geregnet. Die vielen Feudler warten aber noch mit ihren Wischmopps auf den Einsatz auf der mit einer schrägen Rundfläche (sie nennen es „Panetone“) bestückten Bühne, die von hinten in ihrer gewaltigen XXL-Größe feucht glänzt. In dem immer wieder eindrücklichen Arena-Rund nehmen bei jetzt schönster Abendsonne und angenehmen Spätsommertemperaturen die ersten Zuschauer Platz. Keiner stört sich, dass es keinen Vorhang gibt. Hier kann man auch von vorn ein wenig hinter die Kulissen schauen, wenn man früh dran ist.

Arena di Verona, das ist mit über 400.000 Zuschauern in 50 Vorstellungen von Mitte Juni bis Anfang September das größte Opernfestival der Welt, bei dem, die Gasdia hat ihre Kontakte bemüht, wieder die berühmtesten Sänger von Netrebko und Kaufmann bis Grigolo und Rachvelishvili auf dem Besetzungszettel stehen – und auch wirklich singen. Das war früher nicht immer der Fall. Und trotzdem: „Nur zehn Prozent der Zuschauer sind auch Opernliebhaber“, sagt die Intendantin. Der Rest – 40 Prozent Italienern stehen 60 Prozent Touristen gegenüber, davon kommen 25 Prozent aus dem deutschsprachigen Raum – will als Urlauber vom Gardasee Unterhaltung und eine gute Zeit.

Und deshalb hat man die Blockbuster „Aida“, „Turandot“, „Carmen“, „Tosca“ meist in mehreren Inszenierungen im Lager, eben kam ein neuer, futuristischer „Nabucco“ hinzu. Und immer noch ziehen die Zeffirelli-Produktionen am meisten – „Aida“, „Traviata“, „Turandot“, „Butterfly“ und eben „Carmen“ gibt es noch in der Kiste. Bei Bizets Frauengeschichte versteht man auch sofort, warum.

Die Bühne ist in Dauerbewegung („mehr Läbben“, hatte damals in München Giancarlo del Monaco immer in den Proben geschrien), ein andalusisches Postkarten-Wimmelbild breitet sich auf der Szene und den dahinter ansteigenden Stufen in so ungesehener Fülle aus. Jeder Winkel wird bespielt, effektvoll wird der Fokus in den entscheidenden Momenten immer auf die einfach angelegten vier Hauptfiguren gelenkt. Doch eigentlich hat jeder Statist hier, das lerne ich später, seine eigene Bühnengeschichte. Und wenn nicht gesungen wird, dann tanzt ein Ballett Flamenco – auch wenn es gar keine Musik gibt, wie beim Umbau vom dritten zum vierten Akt.

Improvisation ist hier Alltag

Cecilia Gasdia hat sich, die Apfelernte in den Colline Veronese war ihr zu mühsam und zu staubig, ihr Studium als Statistin in der Arena verdient. Ebenfalls der CEO von Calzedonia, einer der Hauptsponsoren. Dann hat sie im Chor gesungen, wurde Solistin, lange Jahre sang sie in dieser „Carmen“ die Micaela. Heute steht sie erstmals, seit sie Intendantin ist, wieder als Zigarettenmädchen auf der Bühne. Einfach aus Spaß. Sie hat schon ihr Kostüm an und die Perücke auf. Ich werde von Schneiderin, Schuster und Requisiteur betreut, die offenen Reißverschlüsse der zu schmalen italienischen Schuhe werde mit Gamaschen überdeckt, der zu große Zylinder mit einer Gummieinlage enger gemacht. Improvisation ist hier Alltag.

Es geht sowieso überraschend locker zu. Es ist eben Italien, und auf der megagroßen Szene bleibt vieles eher ungesehen als in einem kleineren Theater. Trotzdem macht Spielleiter Michele klar: „Es gibt jeden Abend den Moment, wo irgendeiner genau auf dich schaut, und dann musst du als Charakter glaubwürdig und korrekt sein.“ So langsam kommt im Kostüm das Gefühl von früher wieder, die wohlige Aufgeregtheit, ein kleines Rädchen in einer riesigen Musiktheatermaschine zu sein, die gleich live und unwiederholbar abschnurren wird. Im Dunkeln ist das Publikum als mal friedliches, mal wildes Tier zu erahnen, das schon zur Ouvertüre rhythmisch dabei ist, dauernd losklatscht, heute nichts zu buhen hat.

Es stehen ja auch erstklassige Sänger auf der Bühne. Die Russin Aigul Akhmetshina aus der zentralasiatischen Teilrepublik Bashkortostan ist heute mit ihrer samtig-schlanken Stimme und der lässig-arroganten Rollengestaltung die wohl beste Carmen überhaupt. Wir kennen uns, sie begrüßt mich, noch im Schminkkimono, nicht im Carmen-Rock, lachend in ihrer Container-Garderobe, die wie alles hier in den engen, hitzefeuchten Arena-Untergrund gequetscht ist. Größere Dekorationsteile lagern außerhalb, werden nach und vor jeder Vorstellung mit einem Kran über die Mauern gehievt. Später auf der Bühne wird die Carmen ihrem Hobby-Statisten mehrmals zuzwinkern.

Man vertraut offenbar auf meine darstellerischen Fähigkeiten und meinen Bühneninstinkt (auch ohne Brille). Ich bekomme erst kurz vor Vorstellungsbeginn Giancarla als Partnerin zugewiesen, die ich auf keinen Fall auf der Bühne verlieren darf. Sie war früher Musicalsängerin, gastierte auch in Hamburg mit der „Buddy Holly Story“, jetzt ist sie Mimin. Das ist die höchste Stufe der Statisten, der noch Mimi Acrobati, Corifee, Figuranti Minori und Figuranti absteigend folgen. Also bin ich neben Giancarla auch Mime und muss wirklich viel spielen, als jetzt, der aufgeregte Kinderchor voran, alles auf die Bühne strömt.

Ciao und Küsschen für Giancarla

Jeder hat hier seinen Platz, es läuft trotz des Durcheinanders wie am Schnürchen, ich werde gezogen, geschoben, von anderen begrüßt. Ja, es wird viel geredet auf der Bühne, die Mitstatisten wollen wissen, wer der neue „Ehemann“ ist. Alles ist so riesig, dass man die Sänger zwischen den Menschen immer wieder suchen muss. Wenn der Chor singt, steht man in einer Wand aus Tönen, zudem sind Mikrofone am Bühnenrand platziert, damit man sich über die weiten Entfernungen hört. Der Volksaufmarsch in Sevilla geht zu Ende, das Aktfinale gehört den Protagonisten. Doch mein Auftritt mit renitenter Tochter, hinter der, ich wusste davon nichts, ein Bettler und Soldat her sind, hält mich in Atem.

Die zweite Hälfte des zweiten Aktes und das Schmuggler-Bild in den Bergen, die ohne Honoratioren auskommen, durfte ich mir von vorn ansehen, sogar im Kostüm; während dann das Ballett trampelt, laufe ich wieder Backstage, der große Auflauf vor der Arena steht noch an. Noch mal ist das ganz große Regiebesteck aufgeboten, klingendes Ibero-Cinemascope satt. Diesmal platziert mich Giancarla direkt an der Rampe, wir müssen nur auf die ziemlich schnell galoppierenden Pferde mit Matadoren und Picadoren aufpassen.

Dann kommt Aigul mit ihrem feschen Escamillo Erwin Schrott, und es gibt noch eine Einsegnung durch den Priester. Prompt vergesse ich, meinen Zylinder abzunehmen, hat mir keiner gesagt. Aber die Beherzigung klappt taktkonform. Dann sind wir schon wieder draußen. Vor dem historischen Zentraltor nimmt ungesehen der Chor für die Schreie aus der Arena Aufstellung, und als Carmen von Don José Francisco Meli endlich erstochen wird, haben die schon längst ihre Noten wieder eingepackt. Hinten Alltag, vorn großes Drama, Mord und letzte Todestöne. Oper eben. Und ich mittendrin. Ein letztes Mal. Ciao und Küsschen für Giancarla. Ein Addio in Bellezza. Grazie, Arena di Verona!

Ein Uhr nachts. Die Piazza Bra mit ihren Ristoranti vor der Arena ist jetzt das schönste, jedenfalls das am längsten geöffnete Foyer der Welt. Beifall brandet auf, Aigul Akhmetshina, jetzt im orangen Sommerkleid, geht zu einem Tisch. Wir geben uns High Five, diese Vorstellungen haben wir gut über die Bühne gebracht.

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