Weimar, eine Stadt im „Faust“-Fieber: Bunte Plakate verkünden das „Themenjahr Faust“ der Klassikstiftung und werben für die über die Stadt verteilte Großausstellung zu Goethes Klassiker, die Kunstgalerie ACC wartet mit Mephisto auf. So überrascht es nicht, dass auch das Kunstfest Weimar, das größte Festival für zeitgenössische Künste in Ostdeutschland, auf den „Faust“-Hype aufspringt und mit einem „FaustX“ eröffnet. In Anlehnung an Elon Musks SpaceX treibt es den ewig Strebenden nun gar bis ins Weltall.

Der südafrikanische Künstler Brett Bailey hat mit „FaustX“ ein buntes Maskenspiel entworfen, eine lose Bilderfolge nach dem zweiten Teil von Goethes „Faust“. Die Erfindung des Papiergelds wird zu Finanzspekulation am goldenen MacBook, die beiden vertriebenen Alten Philemon und Baucis sprechen jetzt Arabisch, kurz tauchen Bilder von Gaza auf, Musk posiert mit Kettensäge. Schade nur, dass Bailey so sehr nach aktuellen Bebilderungen für „Faust“ sucht, dass er nicht in die Tiefe des Stoffs geht.

Es gibt wohl kaum einen Theatertext, der die Umbrüche des 19. Jahrhunderts so weitsichtig verhandelt, wie „Faust“. Wer das nicht glauben mag, muss unbedingt die Ausstellung im Schillerhaus sehen, ein Meisterstück neuester Museumspädagogik. Trotz Einstiegshilfen wie „Faust“-Comic, Filmcollagen und vielen Gadgets, geht es hier auch in die Tiefe. In kurzen Videos präsentiert sich die akademische Goethe-Forschung, darunter Ernst Osterkamp, Henrich Detering oder Eva Geulen, so klug, verständlich und vom Stoff begeistert, dass man sich ganze Regalmeter mit Literatur zulegen möchte.

Weil Goethe bereits ahnte, dass die Widersprüche seiner Zeit planetarische Ausmaße annehmen würden, ist „Faust“ ein dankbarer Stoff für Aktualisierungen – wie mit der Kolonisierung des Weltalls, die bei Bailey am Ende steht. Bei Goethe gibt es die bitter-ironische Schlusspointe, dass der alte Faust das Scharren der Schaufeln, die bereits sein Grab ausheben, für sein neuestes Landgewinnungsprojekt hält. Der unaufhörliche Expansionsdrang ist totgeweiht. Dass Goethe mit seinem Homunkulus eine der ersten literarischen Fantasien einer künstlichen Intelligenz schuf – neben Mary Shelleys Frankenstein –, ist auf der Bühne kein großes Thema. Das ändert sich mit einem Blick auf den Programmzettel, der „Dramaturgie: ChatGPT“ vermerkt. Ein Chatbot als Verteidiger des Texts und Berater der Regie? Kommt nun die Dramaturgendämmerung?

Nicht als Brückenschlag in die Gegenwart, sondern als totzitiertes Kulturgut von gestern zeigt den „Faust“ ein neues Stück von Theresia Walser, das in Weimar uraufgeführt wurde. „Von allen Geistern“ ist ein Lehrerzimmerdrama, in dem sich eine alte Generation zynischer Lehrer zwar mit einer neurechten Regierung arrangiert, jedoch mit Schülern konfrontiert sieht, die ihre Geschichtsbücher verbrennen („zu viel Holocaust“) und von einer Welt mit mehr Grenzen, Mauern und Zäunen träumen. Was da der olle Goethe hilft, mit seinen humanistischen Weltbürgerträumen? Das bleibt leider so unklar und unüberzeugend wie die Figuren und Konflikte, von der Regie ganz zu schweigen.

Es geht in der letzten Ausgabe von Rolf C. Hemke, den Leiter des Kunstfests zieht es als Intendant an das Theater Vorpommern, aber auch ohne Faust. So wird das zwiespältige Erbe der Stadt mit Kunst aus aller Welt konfrontiert, wenn beispielsweise die Weimarer zu orientalischen Klängen um das Goethe-Schiller-Denkmal auf dem Theaterplatz tanzen, neuer Zirkus aus Taiwan gezeigt wird oder die israelische Künstlerin Sigalit Landau den Glockenturm am ehemaligen Gau-Forum mit einer Performance bespielt. Ein Auftritt des Philosophen Omri Boehm wurde jedoch wegen Krankheit abgesagt.

Ein Höhepunkt des Festivals ist die Uraufführung von „Das Land, das ich liebte“ nach dem Buch der Journalistin Jelena Kostjutschenko, die in Russland für die inzwischen eingestellte „Nowaja Gaseta“ geschrieben hat. Der postindustrielle Charme der KET-Halle (in der DDR kurz für: Kartoffel-Ernte-Technik) trifft auf eine eindringliche Collage mit Video- und Hörspielelementen in deutscher und russischer Sprache. Spannender als die Reportagen über Prostitution oder psychoneurologische Institute in Russland ist die Auseinandersetzung der Protagonistin mit ihrer über Video eingespielten Mutter, in der sich die krasse postsowjetische Erfahrung der russischen Gesellschaft spiegelt.

Während die Mutter der untergegangenen Sowjetunion nachtrauert, über Boris Jelzin und die Schocktherapie der 90er schimpft und sagt, dass die Krim immer zu „uns“ gehört hat, lebt die Tochter in einer linksliberalen Blase, die die Vorteile der Pluralisierung der Lebensformen genießen kann, die den Leuten außerhalb Moskaus wie ein Deckmantel der von ihnen erlebten Nachteile der miteinander verquickten ökonomischen und kulturellen Liberalisierung vorkommt. Das Unheimliche ist, wie die Umcodierung des „Uns“ gelingt, von den Sowjetmenschen zum ausschließenden Russischen. Ein trotz ein paar Längen spannender Erzählabend über den Weg in eine formierte Gesellschaft.

Und sonst? In der Uraufführung der Doku-Oper „Ganz unten“ nach dem Buch von Günter Wallraff treffen sich hoher Opernton und harter Sozialrealismus. Trotz der Überlegungen zur Maskierung (des Selbst) und Demaskierung (der Gesellschaft) wird daraus zwar kein Abend, der es mit Brecht und Eisler aufnehmen könnte, jedoch ein ehrenwerter Versuch. Zum Abschluss des Festivals in der ersten Septemberwoche gibt es dann wieder Klassiker: William Kentridge kommt mit „Faust in Africa“ nach Weimar.

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