Ruhig plätschert der Blutbrunnen vor sich hin. In ein paar Stunden werden Hunderte von Gästen vor dem rot eingefärbten Wasserspiel im Hof des Wormser Schlosses für Fotos posieren, bevor sie nur wenige Meter weiter – mit Blick auf das wuchtige Seitenschiff des Doms – auf den Tribünen Platz nehmen. Es ist der Abend, an dem die Nibelungenfestspiele eröffnet werden. Der Abend, an dem das Publikum erstmals zu sehen bekommt, wie Roland Schimmelpfennig mit seinem Theaterstück „See aus Asche“ die altbekannte Sage der Burgunder erfrischend neu erzählt. Der Text ist jetzt in den Händen des Ensembles, als Autor kann er nichts mehr tun – außer abwarten und Kaffee trinken.
Aufgeregt? „Das bin ich immer“, gesteht Schimmelpfennig, „vor jeder Uraufführung.“ Gerade hat er sich noch einen Espresso beim Bäcker am Schlossplatz geholt, auch eine Flasche Wasser. Es ist ein heißer Tag und es verspricht, eine laue Nacht zu werden. Perfektes Premierenwetter, auch für die anschließende Party. Die Aufregung sieht man Schimmelpfennig nicht an, doch man versteht sie. Es ist der Moment, an dem das über Wochen und Monate am Schreibtisch ausgebrütete Werk plötzlich der Öffentlichkeit ausgesetzt wird, vorgetragen von Schauspielern, bei denen man immer nur hoffen kann, dass sie den richtigen Ton treffen.
Jeder Autor kennt den Moment, in dem der Text ein eigenes Leben beginnt. Doch was passiert, nachdem ein Buch auf mehr oder weniger verschlungenen Pfaden einen Leser oder eine Leserin gefunden hat, bleibt dem, der es geschrieben hat, verborgen. Ganz anders bei der dramatischen Literatur, wo man Zeuge wird, wie eine ausgewählte Öffentlichkeit – in Worms werden das Stück in diesem Festspielsommer etwa 23.000 Zuschauer gesehen haben – unmittelbar und gemeinsam auf das Erzeugnis reagiert. Geht alles gut, gibt es Applaus für den Autor. Wenn nicht, hagelt es Buh-Rufe.
Schimmelpfennig sitzt im Schatten unter einem Baum, die Beine in der weiten Hose mit den Turnschuhen übergeschlagen. Im Hintergrund laufen die Vorbereitungen für den Premierenabend: Für die prominenten Gäste ist ein roter Teppich ausgerollt, die Bediensteten mit den Tabletts voller Weingläser werden instruiert, die Musiker proben noch einmal ihr Repertoire. Der ganze Trubel hat etwas Höfisches, der Garten des Heylsschlösschens ist von einer leichten Unruhe erfüllt. Nur Schimmelpfennig wirkt inmitten dessen wie die Ruhe selbst. Die Situation ist ihm nicht unvertraut.
Arbeit im geschütztem Raum
Mit über 40 Stücken ist Schimmelpfennig nicht nur einer der produktivsten, sondern auch einer der meistgespielten Autoren auf deutschsprachigen Bühnen. Gelegentlich führt er auch selbst Regie, unter anderem bei der Uraufführung seines bekanntesten Stücks „Der Goldene Drache“, das seit über 15 Jahren immer wieder nachgespielt wird. „Ich mag es, fürs Theater zu schreiben“, sagt Schimmelpfennig. „Doch die Theaterwelt verursacht sehr viel Wirbel, das vertrage ich nicht immer. Dann muss ich wieder allein sein, allein mit mir am Schreibtisch.“ Bei der Arbeit herrscht ein strenges Regime: „Ich muss morgens früh anfangen, am besten sehr früh, und das Arbeitszimmer ist ein geschützter Raum. Da bleibt die Tür zu, da hilft nichts.“
Theaterautoren wie Schimmelpfennig leben in zwei Welten: der Einsamkeit des Schreibtischs und der Aufmerksamkeit der Bühne. Im geschützten und im ungeschützten Raum. Und während andere zeitgenössische Dramatiker sich auf der Studiobühne oder in der Nebenspielstätte wiederfinden, ist Schimmelpfennig einer für die ganz große Bühne. Ungeschützter geht es kaum. Für das Schauspielhaus Hamburg schrieb er „Anthropolis“, fünf Stücke plus Prolog und Epilog über Aufstieg und Fall der Stadt Theben. Ein Riesenerfolg, stets ausverkauft – und das bei 1200 Plätzen. Und nun Worms. „Als Theatermann bewege ich mich eigentlich mehr in der antiken Mythologie und habe mit nordischen Göttern nicht viel am Hut“, sagt Schimmelpfennig lächelnd.
Was interessiert einen Dramatiker an den Nibelungen, dem „deutschesten aller deutschen Stoffe“, wie es Heiner Müller einmal ausdrückte? „Sagengeschichte sind faszinierend“, sagt Schimmelpfennig. Er spricht ruhig und mit leiser Stimme, die Sätze wirken wie gedruckt, als wäre auch dieses Gespräch eine Szene in einem seiner Theaterstücke. „Und die Nibelungen sind eine der wenigen Sagen, die wir in Deutschland haben, mit einer ambivalenten Geschichte, von Hebbel bis zum Missbrauch durch die Nationalsozialisten.“ Auch die Nazis veranstalteten in Worms Nibelungenfestspiele, feierten soldatische Treue und blinde Katastrophenergebenheit.
Entrückte Fantasiewelten mit Sagengestalten finden bis heute ein großes Publikum, mehr im Film als im Theater. „Man sieht bei ‚Herr der Ringe‘ oder „Game of Thrones‘, wo die sich bedienen“, sagt Schimmelpfennig. „Auch die Nibelungen haben sich schon bei der ‚Edda‘ bedient. Und doch kommt für mich an die Nibelungen nichts ran.“ Obwohl er die komplexen Dramaturgien von Netflix & Co. bewundert, kann sich Schimmelpfennig nicht vorstellen, selbst eine Serie zu schreiben. Er bleibt lieber beim Theater. Bücher schreibt er ja auch noch: Kürzlich ist sein Roman „Sie wartet, aber sie weiß nicht, auf wen“ erschienen, im Herbst kommt außerdem mit „Bericht von der Mondlandung“ ein Band mit Gedichten heraus.
„Wir erzählen uns heute viel, indem wir Filme nacherzählen – und so mache ich das auch“, sagt Schimmelpfennig über seine Theaterarbeit. „Ich erzähle die Nibelungen nach, aber das ist keine Umschreibung und auch keine Überschreibung. Das ist der Versuch, den Film, den jeder im Kopf hat, nochmal neu zu erzählen. Und für mich ist klar, dass diese Geschichte kein anderes Ende als diese Katastrophe haben kann.“ Das unterscheidet Schimmelpfennig von manchen seiner Kollegen, die den Nibelungen ein neues Ende verpasst haben, das aus heutiger Sicht wünschenswerter erscheint. Da verbünden sich beispielsweise Brunhild und Kriemhild gegen die Machokultur am Hof und planen, das Patriarchat zu stürzen. Alles gut? Aus dramatischer Sicht eher nicht.
Große Mythen kreisen meist um die Katastrophe, sonst wären sie keine großen Geschichten“, sagt Schimmelpfennig. „Bei den Nibelungen gibt es diesen eigenartigen Moment, wo die Burgunder alle zu Etzel fahren, zusammen mit Hagen, der dort alles andere als erwünscht ist – und der sogar das Schiff für den Rückweg zerstört. Sie gehen in den Tod, aber sie bleiben zusammen. Das ist diese Treue, die die Nazis im Krieg missbraucht haben.“
Es wirkt absurd, Schimmelpfennig über die irrationale Katastrophenfaszination der Nibelungen sprechen zu hören, während an diesem schönen Sommertag in dem pittoresken Schlosshof nichts im Entferntesten nur danach aussieht. Selbst der Blutbrunnen scheint eher Disneyland als den tiefsten Schichten zerstörerischer Seelenzustände entsprungen.
„Die Nibelungen sind kein Stoff für Heldengeschichten, das ist ein Missverständnis“, fährt Schimmelpfennig fort. „Siegfried gilt zum Beispiel als Held, weil er den Drachen getötet hat. Aber das ist reiner Zufall, eher ein Unfall.“ In seiner Fassung schreibt er gegen den Heldenton an, der seit Hebbel die Nibelungen umweht. „Hebbel will so einen Theaterton herstellen, der aber etwas hohl klingt, nach Kostümkiste. Seine Sprache ist aufpoliert, aber sie leuchtet nicht aus sich heraus, sie transzendiert nicht“, sagt Schimmelpfennig, der nach einer Tiefe ohne Heldenpathos sucht. „Es kann schnell abgeschmackt werden, das ist die Gefahr bei diesem Stoff.“
Alte Stoffe in neuer Sprache – ist das eine neue Leidenschaft? „Ich habe viele zeitgenössische Sachen geschrieben, aber ich merke bei mir eine Sehnsucht, den großen alten Stoffen zu begegnen.“ Während Schimmelpfennig erzählt, nimmt die Unruhe im Hintergrund zu und ist inzwischen einer spürbaren Gespanntheit gewichen. Ein deutliches Zeichen, dass die Premiere näher rückt. Erste Gäste trudeln ein und bedienen sich am Moselwein. Später taucht als eine von vielen Prominenten aus Politik und Kultur die Bundestagspräsidentin Julia Klöckner auf, das pinke Kleid harmoniert farblich mit dem grellroten Wasser im Blutbrunnen. Auch Schimmelpfennig macht sich noch schick, jedoch deutlich dezenter: Er wählt einen dunklen Dreiteiler.
Zur Biografie: Seit 30 Jahren arbeitet Roland Schimmelpfennig, 1967 in Göttingen geboren, als freier Autor. Er hat zahlreiche Stücke und Romane und auch Gedichte geschrieben. In diesem Frühjahr erschien der Roman „Sie wartet, aber sie weiß nicht, auf wen“ bei S. Fischer (24 Euro). Er ist einer der meistgespielten Dramatiker Deutschlands, auch im Ausland. Seine Antikenbearbeitung „Anthropolis“, 2023 in Hamburg am Deutschen Schauspielhaus von Karin Beier inszeniert, wurde hymnisch gefeiert. Seine Fassung von Leo Tolstois „Krieg und Frieden“ brachte kürzlich der Schauspieler Charly Hübner in Magdeburg auf die Bühne. Sein neuestes Stück „See aus Asche – Das Lied der Nibelungen“ feierte Mitte Juli Premiere bei den Nibelungenfestspielen in Worms. Es lief dort bis Ende Juli in der Regie von Mina Salehpour.
Und dann, nach drei Stunden mit Pause zum Nachschenken, kommt endlich der Schlussapplaus. Der Moment, in dem der Dramatiker aus der geschützten Einsamkeit seiner Schreibtischarbeit in die Arena tritt, vor die Augen des versammelten Publikums und so ungeschützt ist wie Siegfried an der Stelle mit dem Lindenblatt. Applaus brandet auf, die Zuschauer sind zufrieden. Schimmelpfennig greift nach den Händen der Schauspieler und der Regie, verbeugt sich – und sieht etwas verloren aus, als er anschließend zwischen den großen Kiesbergen des Bühnenbilds den Weg zurück sucht, runter von der Bühne. Danach, im vergnügten Gewühl der Party, scherzt ein begeisterter Harald Schmidt mit dem Ensemble, während Schimmelpfennig wie abgetaucht scheint.
Ist es der Schreibtisch, der schon wieder ruft? Er arbeite immer an mehreren Projekten gleichzeitig. „Was mich gerade interessiert, ist eine Figur wie Elon Musk, auch die vorauseilende Unterwürfigkeit, die Geld und Macht erzeugen. Ich weiß noch nicht, wie das im Theater gehen könnte, aber das beschäftigt mich – und parallel sind da auch noch weitere alte Mythen, über die ich mir Gedanken mache.“ Als Dramatiker wirkt Roland Schimmelpfennig im Verborgenen – bis zur nächsten Uraufführung.
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