Tokio, in den Monaten der Pandemie: Hana, eine Frau in ihren Vierzigern, auf eine Weise allein, die von Gefühlen kein Aufheben mehr macht, gerade aus ihrer Arbeit als Verkäuferin entlassen, weil ihr Chef unter den Bedingungen des Lockdowns sich keine Angestellten mehr leisten kann, liest im Internet: Eine 60-jährige Frau, eine gewisse Kimiko Yoshikawa, wurde verhaftet, weil sie eine junge Frau in ihrer Wohnung gefangen hielt.
Hana weiß sofort, wer diese Frau ist. Und auch, dass möglicherweise ihre eigene Vergangenheit ans Licht kommt. Sie hat sie weggepackt, damals, als sie Kimiko hinter sich gelassen hatte, gerade noch rechtzeitig.
Von hier springt Mieko Kawakami in ihrem Roman „Das gelbe Haus“ zwei Jahrzehnte zurück, in das Tokio der 1990er-Jahre, eine Stadt, die nichts Funkelndes oder Exotisches hat. Wir lernen Hana als Jugendliche kennen – 17 Jahre alt, eine Außenseiterin, die in der Schule gemobbt wird, ohne Geld, ohne Vater, die Mutter arbeitet nachts in Bars und verschwindet immer mal wieder unangekündigt, irgendwann haut Hana ab. Kimiko, eine alte Freundin der Mutter und wie diese aus dem Nachtgeschäft, fängt Hana auf, kocht ihr Essen, lässt sie bei ihr schlafen, kümmert sich.
Sie haben nichts – und teilen alles
Irgendwann übernehmen die beiden eine Bar, acht, zehn Plätze, ziemlich heruntergerockt, aber mit treuer Stammkundschaft, Männer, die sich aussprechen wollen und denen sie zuhören, Karaoke und Hostessen-Freundlichkeit, nichts Sexuelles, dafür eine Intimität, die jeden Abend vom Anstrengenden des Lebens erlöst. Bier, Geschichten, Lachen, panikfreie Zeit, viele Momente, die kaum jemand so virtuos wie Kawakami beschreiben kann: eine Zigarette, die ohne Worte weitergereicht wird; eine Einkaufstüte mit Essen, kommentarlos vor die Tür gestellt; eine Hand, die sich auf eine Schulter legt, nicht länger als einen Atemzug. Irgendwie tauchen zwei weitere Frauen auf, Ran, eine Ex-Hostess, und Momoko, einem reichen, aber lieblosen Elternhaus entflohen. Sie verstehen sich gut, eine Frauenbande, sie haben nichts – und teilen Essen, Restgeld, Tipps zum Überleben, manchmal auch Schweigen.
Kawakami lässt den Mangel nie verschwinden. Immer fehlt Geld, die Jobs sind prekär, die Rechnungen stapeln sich. Aber die Frauen schaffen es, sich nicht davon unterkriegen zu lassen und ziehen zusammen, in ein windschiefes Haus, das ihnen der Vermieter der „Lemon“-Bar überlässt und das sie sich herrichten, inklusive einer gelben Ecke, weil das Feng-Shui besagt, dass Gelb Geld anzieht. Eine Zeit lang fühlen sie sich, als hätten sie Boden unter den Füßen.
Aber dann brennt die Bar ab, vielleicht Brandstiftung, sie werden es nicht herausfinden, und sie haben keine Arbeit mehr, ihr ganzes Überlebenssystem ist kaputt, niemand würde ihnen Kredit geben. Also tricksen sie, heben mit geklauten Bankkarten Geld an Automaten ab, rutschen immer tiefer in kriminelle Manöver ab – Kawakami beschreibt sie so kundig, als hätte sie jede Menge Erfahrung. Es ist ein Porträt von Japans Marginalisierten, wie man es selten liest: von innen, nicht von außen.
Immer wieder merkt man dem Buch an, dass es ursprünglich als Fortsetzungsroman in der Tageszeitung „Yomiuri Shimbun“ erschien. Es hat einen episodischen Atem, Cliffhanger, Kapitel, die eher wie Nebel sind, andere wie Messer. Und während man dem Abdriften von Kawakamis Heldinnen folgt, erfährt man unendlich viel über ein Japan, von dem man nicht so viel hört.
Sie war selbst mal Hostess – und Popsängerin
Das hier ist nicht die gepflegte Mittelschicht-Melancholie eines Haruki Murakami, in der Nachtleben darin besteht, dass traurige Männer zum Whiskey Jazzplatten hören, das hier ist etwas Rohes. Ranzige Wohnungen, bescheidenes Essen, gewalttätige Boyfriends, Trickster, die Kreditkarten klonen, ramponierte Menschen, die keine Papiere haben. So sieht es also aus, wenn man in Japan unten lebt. Kawakami weiß, worüber sie schreibt: Mit 14 arbeitete sie selbst in einer Panasonic-Fabrik, schraubte Heizlüfter zusammen. Sie war Hostess, versuchte sich als Popsängerin und scheiterte.
Vielleicht liegt es an dieser Glaubwürdigkeit, dass Kawakami vor allem jungen Leserinnen so viel bedeutet. Ihre Bücher sind nicht nur Literatur, sie sind Begleiter, geben jenen Stimmen, die sonst in der Literatur nicht vorkommen: gemobbten Schülern, Barfrauen, Hostessen, Töchter von alleinerziehenden Müttern, die nachts arbeiten müssen. Kawakami schreibt über sie mit einem Respekt, der den Unterschied zwischen Realismus und Kolportage macht, zeigt, wie man lebt, wenn man nichts hat – mit List, Würde, Trotz.
„Das gelbe Haus“ ist kein Buch, das alles auflöst, kein Thriller mit sauberem Ende. Eher eine Sammlung von Brüchen, Versuchen, zarten Momenten, ein Roman über das Bilden von Schwesternschaften und Ersatzfamilien und deren Auseinanderbrechen, weil das Leben sich leider nicht zwingen lässt. Vielmehr hat „Das gelbe Haus“ etwas, an dem man sich festhalten kann: Hoffnung, dass Menschen sich so etwas wie ein Zuhause bauen können, wenn sie sich zusammentun.
Mieko Kawakami: Das gelbe Haus. Aus dem Japanischen von Katja Busson. Dumont, 528 Seiten, 26 Euro.
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