Über diesen Geheimtipp aus Cannes sollte man am besten so wenig wie möglich lesen, bevor man ins Kino geht. Was man ruhig vorher wissen kann: dass „Sirāt“, eine französisch-spanische Co-Produktion von unter anderem Pedro Almodóvar, beim diesjährigen Filmfestival mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Und dass der Roadtrip Luis (Sergi López), seinen zwölfjährigen Sohn Esteban (Bruno Núñez) und ihren Hund bei der Suche nach Luis’ verschwundener Tochter durch Marokko begleitet.
Gerüchten zufolge soll die Tochter sich auf einem Rave befinden, weshalb das Trio sich an eine Gruppe tätowiert-verstümmelter Aussteiger dranhängt und ihnen auf einem hindernisreichen Weg durch die Wüste folgt: Das Militär verbietet die Weiterfahrt, später muss ein Fluss mit dem Geländewagen überquert werden, und schließlich erkrankt der Hund, nachdem er Menschenkot mit Drogenrückständen gefressen hat. Kameramann Mauro Herce schafft mit 16-mm-Film eine surreale, flimmernde Bildkulisse; Komponist Kangding Ray lässt mitreißende Techno-Beats von den schroffen Felswänden prallen.
Hier könnte man mit dem Lesen aufhören und darauf vertrauen, dass man es – trotz der konventionell klingenden Handlung – mit großem Kino zu tun hat. Beinahe widerwillig sei noch Folgendes verraten: Der französische Regisseur Óliver Laxe, der das Drehbuch gemeinsam mit Santiago Fillol schrieb, unterläuft die anfänglich etablierte Roadtrip-Prämisse so radikal und überraschend, dass einem erst der Mund offen steht und man dann nicht weiß, wohin mit den Händen: sich die Augen zuhalten, fest im Kinosessel verkrallen oder panisch nach dem Arm des Sitznachbarn greifen.
Schon die erste Szene, die in beinahe dokumentarischer Ausführlichkeit den Aufbau des Festivals mitten im Nirgendwo verfolgt, setzt einen gleichzeitig verhängnis- und verheißungsvollen Ton. Die Ahnung, dass diese Utopie des gemeinsamen Feierns jederzeit in die Dystopie eines Angriffs auf die Lebensfreude umschlagen könnte, liegt in der Luft. Nur wann und wie Óliver Laxe die träge Idylle zu zerstören bereit ist, damit hätte man nicht gerechnet.
Ein Film wie kein anderer
Als er mitten im Film plötzlich und fast ohne Vorwarnung zwei liebgewonnene Hauptfiguren auf einmal über die Klinge springen lässt, ist klar: Dieser Regisseur schreckt vor nichts zurück, kennt keine Grenzen, weder die des Genres noch die des Anstands oder des guten Geschmacks. Das einstige Ziel – die Suche nach der Tochter – gerät zunehmend aus dem Blick. Aus dem Buddy-Roadtrip wird ein Trauerverarbeitungs-Drogen-Trip. Luis tanzt und weint und leidet, während er den Rausch seines Lebens erlebt.
Als der Film vermeintlich endlich eine klare Richtung erkennen lässt, wirft der Regisseur in einem unvorhersehbaren Moment noch einmal alles um und verwandelt die Story in einen packenden Survival-Escape-Thriller: Eine Hauptfigur nach der anderen geht in die Luft und damit verschwindet endgültig jede Gewissheit.
„Sirāt“ ist ein Film wie kein anderer. Eine wilde Mischung aus „Mad Max: Fury Road“, „Midsommar“, „Thelma & Louise“ und „Zabriskie Point“. Für solch einen schonungslos schockierenden Regelbrecher wenig überraschend, reichen die Kritiken von Totalverriss bis Begeisterung. Wer genug hat von Brandenburger Hitze-See-Fahrrad-Dramen à la „Zikaden“, „In die Sonne schauen“ (der sich mit „Sirāt“ in Cannes den Preis der Jury teilte) und „Miroirs No. 3“, kann mit dieser missglückten Heldenreise durch postapokalyptische Dürre und seelische sowie reale Minenfelder ein Wunder erleben.
„Sirāt“ läuft ab dem 14. August im Kino.
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