Er war kein Held, er war oft ein Konformist. Weil Dmitri Schostakowitsch ein Mensch war, der Angst hatte. Aber er war eben auch ein besonderer Mensch, ein großer Künstler. Einer, dem – mitunter gegen seinen Willen – die Zeichen seiner Zeit den Stempel aufdrückten. Doch weil er so aufmerksam und durchlässig war, stets am Puls des Heute, haben ihn die Umstände seines schwierigen Lebens so beeinflusst. Er wäre sonst nicht der Komponist geworden, der er wurde, in seiner Vielfalt, seinem Eigensinn, seiner Zerrissenheit, seiner Ambivalenz, aber eben auch in seinem unbestreitbaren Können.

Jetzt, 50 Jahre nach seinem Tod, aus der gesunden, aber noch präsenten Distanz hinaus, steht er einzig da: Dmitri Schostakowitsch ist nicht nur der Komponist der roten Revolution, des Großen Krieges, der Gleichschaltung, kulturellen Planierung, der geopolitischen Eiszeit im Kalten Krieg. Er ist auch der tönende Schmerzensmann des Sowjetstaates, aber mehr noch: der Klangchronist des 20. Jahrhunderts.

Man mag diese Bedeutung auch daran ablesen, dass Schostakowitsch, anders als Mahler, Strauss, Sibelius, sein Landsmann Prokofjew, die Nachkriegsavantgarde oder sein erst in den letzten Jahren wiederentdeckter Freund Mieczysław Weinberg, zur handelnden Person zweier wichtiger Romane wurde, und das erst lange, nachdem er am 9. August 1975 starb: 2005 erschien von dem Amerikaner William T. Vollmann die erst 2013 ins Deutsche übersetzte Monumentalchronik des Zweiten Weltkriegs aus sowjetischer Sicht: „Europe Central“.

Darin ist der Komponist einer der Hauptprotagonisten, dessen Dreiecksliebesgeschichte freilich komplette Fiktion ist. Und in dem schmalen Band „Der Lärm der Zeit“ von 2016 beleuchtet der Brite Julian Barnes am Beispiel Schostakowitschs die Lebens- und Arbeitsbedingungen eines Künstlers in der stalinistischen Diktatur.

Vision und Vita

Musik und Macht: Was wäre gewesen, wenn Dmitri Schostakowitsch nicht mit Stalin, sondern – anstelle von Richard Wagner – mit König Ludwig II. von Bayern hätte leben müssen? Hätte er, der absurderweise auch von Stalin in dessen Sinne gefördert, aber eher missbraucht wurde, dann die Musik komponiert, die er geschrieben hat? Die, wie eigentlich bei keinem anderen Komponisten in der Geschichte, aufs engste mit seinen konkreten Lebensumständen verknüpft ist, im Guten wie im Schlechten?

Selten war Klang gewordene künstlerische Vision so wenig persönlich, politisch, gesellschaftlich und kulturell von der Vita ihres Schöpfers zu trennen. Schostakowitsch hat seiner Gegenwart stets in die Augen geblickt, wurde von ihr brutal geformt, hat sie aber auch musikalisch geprägt wie wenige vor und nach ihm.

Dmitri Schostakowitsch wurde 1906 in Sankt Petersburg geboren und starb 1975 in Moskau, er erlebte zwei Gesellschaftssysteme, zwei Weltkriege und den Kalten Krieg. Er hat das 20. Jahrhundert politisch zunächst durch den gewaltsamen Umsturz in Russland erfahren. Er hat es persönlich zu spüren bekommen, weil der Diktator Stalin, ihm, dem Unangepassten, immer wieder auch nach dem Leben trachtete. Und er musste stilistisch darauf reagieren, der Doktrin des sozialistischen Realismus folgen, ohne sich und seinen Stil zu verlieren.

Die lange Zeit oft durch ideologisches Halbwissen verfälschte Sicht auf diesen Komponisten und seine Musik in den Zeiten der roten Diktatur hat sich wesentlich verändert. Durch Zensurmaßnahmen und den Eisernen Vorhang waren zunächst viele Fakten unbekannt. Wir kennen heute durch eine Fülle von Materialien den echten, oft gewissensgepeinigten Schostakowitsch. Vor allem aber hat seine höchst eigenständige Musik in ihrer immer wieder staunenswerten Fülle und Varianz als grandioses Gesamtwerk unterschiedlichster Gattungen die internationalen Konzertsäle und Opernhäuser der Welt erobert; in den vergangenen drei Jahrzehnten mit Rasanz und Nachdruck.

Seine Musik wird weiter an Bedeutung gewinnen. Sie verletzt und beißt. Sie verbirgt sich hinter Masken und Fratzen, sie ist todtraurig und doch siegessicher. Seine Musik ist nicht schön, nicht leise, nicht trostreich. Sie ist bisweilen grell, trivial, enervierend. Sie scheint manchmal primitiv und ist doch hochkomplex. Und sie ist ehrlich. Nach Schostakowitsch kommt eigentlich – nehmen wir nur sein Schaffen von je 15 Werken in so konträren Hauptgattungen wie der Sinfonie und dem Streichquartett – keiner. Trotz Petterson, trotz Stockhausen und Henze, selbst Philip Glass reicht hier nicht heran.

Es ist eine Musik, die dem Jetzt nie entkommen, die sich nur unter Schmerzen in den vermeintlichen Elfenbeinturm der Kunst flüchten konnte. Es ist eine Musik mit Fehl und Tadel, die eines schwachen, doch großen, universellen Geistes. Dmitri Schostakowitsch war ein Kind seiner Zeit, hat für und aus ihr geschaffen, seit er als Elfjähriger auf den St. Petersburger Straßen der ersten Toten einer Revolution ansichtig wurde, auf die er bereits damals eine kindliche „Hymne an die Freiheit“ schrieb. Eine Revolution, die er als Erwachsener unter Zwang und um sein Leben komponierend, etwa in dem Oratorium „Das Lied von den Wäldern“ (1949), mit Tönen als groß und gerecht zu glorifizieren hatte. Und er ist dabei nie ein Held gewesen, war meist der passive Spielball.

Komponieren unter Zwang

Ein so krankhaft bescheidener, ja verklemmter, wie auch brennend ehrgeiziger und eher unsozialer, dabei hochsensibler, verletzlicher Charakter. Ein Liebhaber des Alkohols und der Frauen. Außerordentlich hilfsbereit, aber auch ein Opportunist, der seine Musik unter Zwang janusköpfig anpasste und dann doch wieder extrem subversiv sich jedem Trend widersetzte, manche Werke Jahrzehnte unter Verschluss hielt. Er war einer, dem das Komponieren leichtfiel, und der sich doch nie mit einem einmal gefundenen Weg zufriedengab.

Er war aber auch ein williges Opfer, mit dem Stalin für sein Leben gern Katz und Maus spielte. Er war Russlands am meisten geachteter Komponist, aber zugleich der am meisten angefeindete. Der sich nur in und hinter seiner Musik verstecken konnte. Besonders als er zweimal, 1936 und 1948, durch die oberste Parteidoktrin wegen formalistischer, der Erbauung der Arbeiterklasse nicht würdiger Tendenzen verdammt wurde, ja moralisch vernichtet werden sollte.

Dmitri Schostakowitsch war kein Wunderkind wie Mozart, aber doch ein früh Vollendeter, vor allem aber ein früh Erfolgreicher. Am 12. Mai 1926 wurde die 1. Sinfonie des Zwanzigjährigen uraufgeführt. Sie wurde mit ihrem respektlos grotesk-sachlichem Stil zur Sensation weltweit. Vorher hatte Schostakowitsch das Konservatorium unter Alexander Glasunow fast schwerelos durchlaufen, wurde auch ein leidlich spielender Pianist. Schnell war klar, dass er sich künstlerisch eher der ruppigeren, ursprünglicheren russischen Schule eines Mussorgsky als der international orientierten eines Tschaikowsky zurechnen lassen würde.

Bereits 1922 Halbwaise geworden, musste er sich freilich – ganz Kind des Medienzeitalters – sein Geld als Stummfilmpianist verdienen. So wie er später in den Jahren der schlimmsten Repressalien durch Stalin in mehr oder weniger routiniert abgespulten Filmmusiken einen Lebenserhalt fand; aber auch vom Diktator mit sicherem Wirkungsgespür und Qualitätssinn auserkoren wurde, um ihn in Propagandaschinken wie „Der Fall von Berlin“ (1949) zu verherrlichen. Der gleiche Diktator hatte freilich 1936 mit dem von ihm befohlenen „Chaos statt Musik“ betitelten Hetzartikel in der „Prawda“ gegen Schostakowitschs zweite Oper „Lady Macbeth von Minsk“ dessen Bühnenkarriere ruiniert, ihn als Mensch und Künstler fast ausgelöscht.

Auch die übrigen 14 Sinfonien lassen sich immer präzise mit den Zeitumständen in Beziehung bringen. Sie überzeugen zudem fast alle als absolute Musik, obwohl ihr Schöpfer mit dem historisch-politischen Bedeutungsgehalt immer wieder mutwillig Versteck spielte.

Die „Leningrader“ Sinfonie

Die 7. wurde Schostakowitschs berühmteste: zu Teilen komponiert in der von der deutschen Wehrmacht belagerten Stadt, wurde sie als „Leningrader“ sofort nach der Uraufführung 1941 als Fanal wider die Hitler-Barbarei wahrgenommen und avancierte zum damals weltweit bekanntesten Stück Musik – und neben „Lili Marleen“ und „J’attendrai“ zum Soundtrack des Krieges. Die 13. Sinfonie (1962) mit der Vertonung von Jewtuschenkos „Babi Yar“-Gedicht stemmte sich dann genauso gegen den wüsten sowjetischen Antisemitismus, wie der 1948 in Zeiten neuerlicher Verfolgung zunächst für die Schublade geschriebene Liedzyklus „Aus der jüdischen Volkspoesie“.

Dmitri Schostakowitsch konnte sich nicht wie Mozart aus dem Machtbereich seines Brotherren in Unabhängigkeit und Eigenverantwortung verabschieden, für ihn hätte Auflehnung eine lange Lagerhaft oder den Tod bedeutet. Auch nach Stalins Tod 1953 konnte er mit der Nomenklatura keinen Frieden schließen. Er wurde weiter drangsaliert, verführt, vorgeführt. Aber eben auch geehrt und privilegiert. Ein Leben, das in seiner Ambivalenz schwer zu beurteilen ist. Das aber eben auch eine private, weniger vom repräsentativen und politischen Druck beeinflusste Seite hatte.

Überhaupt ist die wertvolle Kammermusik von Dmitri Schostakowitsch, sind die Präludien und Fugen, die Klaviersonaten, Klaviertrios, vor allem die reichhaltigen Liedzyklen, aber auch die späten, herben Filmmusiken genauso wie die frühen Flirts mit der Unterhaltungsmusik in ihrer ganzen Vielfalt noch zu ergründen. Wofür unsere Ära endlich reif scheint. Ausgerechnet der Dirigent und Putin-Vasall Valery Gergiev hat einmal den trotzdem klugen Satz gesagt: „Es ist an der Zeit, mehr Musik in dieser Musik zu entdecken.“

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