Vielleicht liegt es daran, dass ich Norddeutscher bin. Bei uns gab es ohnehin nie einen richtigen Sommer. Also mussten wir lernen, den Regen zu lieben.
Die Stadt, aus der ich komme, liegt im Süden des Nordens. Manchmal wird bezweifelt, ob das überhaupt noch Norddeutschland ist. Aber es gibt doch viele Punkte, die dafür sprechen: Wir waren mal Hanse. Wir sprachen mal Niederdeutsch. Wir sind noch richtig evangelisch. Unser Bier schmeckt herb. Unser Fußballverein kriegt schon lange nichts mehr auf die Reihe. Wir wissen, was eine Lüttje Lage ist. Wir essen im Herbst Braunkohl mit Bregenwurst. Und bei uns regnet es oft.
Im Heimatkundeunterricht habe ich gelernt, woran das liegt. Von der Nordsee kommt fast immer Westwind, der Wolken mit sich bringt, die sich mit über dem Meer verdunstetem Wasser vollgesogen haben. Etliches davon regnet schon ab, sobald sie übers Land gepeitscht werden, wie die regengeplagten Hamburger bestätigen können. Aber wenn sie dann die Lüneburger Heide hinter sich gelassen haben, erhebt sich das Land vor dem Harz allmählich, und mit ihm kraxeln die Wolken sanft bergauf. Der Luftdruck steigt. Der Wasserdampf verdichtet sich und knüllt sich zu feinen Tröpfchen, die sich dann zu dicken Regentropfen ballen. Physiker werden über die Erklärung lachen, aber wie gesagt: Es war Heimatkunde in der Zwergschule auf dem Dorf, wo vier Jahrgangsstufen gleichzeitig von einem einzigen Lehrer in einem Raum unterrichtet wurden.
In dieser Gegend gab es keine Sommer ohne Regen. Weil keine Täler oder Berge das lokale Wetter festhielten, konnte es fast genauso schnell umschlagen wie an der Nordsee. Eine meiner ersten Lungenentzündungen bekam ich, weil ich leichtbekleidet vom schüttenden Guss erwischt wurde und dann auch noch im Regen vor dem Haus herumtanzte, denn die Tropfen waren trügerisch warm.
Die Badeseen und Kiesgruben waren nach solchen Sturzregen immer ganz klar an der Oberfläche. Wenn man zurückkam, weil die Sonne längst wieder da war und nur in der Ferne noch ein Regenbogen leuchtete, musste man aufpassen, nicht auf Weinbergschnecken und Regenwürmer zu treten, die das Prasseln hervorgelockt hatte. Ich bilde mir ein, die wilden Erdbeeren im Gestrüpp wären dann besonders prall gewesen.
Das Regenwasser war unser Spielzeug. Auf den ruhigen Dorfstraßen bauten wir Dämme, mit denen wir das Wasser stauten, um es dann auf einmal freizulassen und gewaltige Überschwemmungskatastrophen zu simulieren. Ganze Lebenswelten waren die Tümpel und großen Pfützen, die sich durch den häufigen Regen bildeten. Man konnte darin nicht nur herumplantschen. Oft waren sie so groß, dass man seine Plastikcowboys darauf mit kleinen Brettern floßfahren lassen konnte, Flusspiratenphantasien inklusive. Wenn solche kleinen temporären Gewässer sich lange genug hielten, schwammen irgendwann Kaulquappen darin.
Mein größtes Abenteuer als Kind hat auch mit Regen zu tun. Westlich von meiner Heimatstadt beginnen die Lösslehm-Böden, auf denen Braunerde liegt. Die Eiszeit ist schuld (noch mehr Heimatkundeunterrichtswissen). Einmal bin ich beim Versuch, ein frisch gepflügtes Feld zu überqueren – was wollte ich eigentlich auf der einen Kilometer entfernten anderen Seite? – bis zu den Waden im Matsch stecken geblieben. Ich war ganz allein unter dem grauen, weiten Himmel und fühlte mich wie in einem Tarzan- oder Edgar-Wallace-Film, wo regelmäßig Menschen im Sumpf versanken. Panik erfasste mich, weil ich die Füße nicht mehr herausbekam. Schließlich schlüpfte ich aus den Gummistiefeln und kroch auf allen Vieren zum nächsten Feldweg mit festem Boden.
In der Mythologie meiner Heimat spielte das Nass, das der Regen brachte, eine große Rolle. Unser Trinkwasser kam aus den Harztalsperren. Es war besonders weich. Kaffeemaschinen musste man fast nie entkalken. Für Haut und Haare war es auch gut. Als wir dann alle nach Berlin gezogen sind, erklärten wir uns die Tatsache, dass Bier und Brötchen da schlechter schmecken, mit dem inferioren Wasser.
Die Ankunft eines für unser Heimatgefühl so grundlegenden Stoffes konnte natürlich nicht als Malheur betrachtet werden, auch wenn man mal wieder ein bisschen zu viel davon abbekam. Bis heute empfinde ich es als meditativ und seelenreinigend, am Fenster zu stehen und zuzusehen, wie Landregen vom Himmel fällt. In meiner Erinnerung schrumpfen große Teile meiner Kindheit auf solche Momentaufnahmen, in denen sich ein Regenschleier über den ganzen weiten Horizont der niedersächsischen Ebene erstreckte, während irgendwo ganz klein auf der Landstraße ein Radfahrer sich von rechts nach links durch die Schauer kämpfte. Wahrscheinlich habe ich so eine Szene viel häufiger auf dem von Celestino Piatti gezeichneten Cover des Romans „Deutschstunde“ gesehen als in der Realität. Aber es wurde mir zum Seelenbild.
Die Versteppung Brandenburgs ist aufgehalten
Die Andacht habe ich an meine Kinder vererbt. Wenn ein schöner Regen kommt, zieht es uns auf den Balkon, wo wir seinem Rhythmus lauschen und zusehen, wie sich auf dem Asphalt Blasen bilden. Dieser Moment ist umso inniger, weil es in Berlin in den vergangenen Jahren immer mal wieder Phasen gab, in denen es kaum oder gar nicht geregnet hat. Dann sammelten sich Großstadtdreck und Pollenstaub knochentrocken auf den Straßen, und meine braven Nachbarn schleppten Gießkannen, um die Bäume zu wässern.
In solchen Wochen kommen die Informationsschnipsel wieder nach oben, die auf den Boden meiner Erinnerung gesunken waren. Fünf Jahre lang – von 2018 bis 2022 – verdunstete hier mehr Wasser, als vom Himmel fiel. Forscher warnten seit Langem vor der Versteppung Brandenburgs. Der Bau der Tesla-Fabrik ausgerechnet in einem Wenigwassergebiet gilt als katastrophaler Umwelteingriff. In den Sommermonaten fließt die Spree manchmal rückwärts, seitdem kein abgepumptes Wasser aus dem Tagebau sie mehr zusätzlich speist. Noch Anfang Juli dieses Jahres graute es dem „Dürremonitor“ des Helmholtz-Instituts vor den Folgen einer neuen Hitzewelle.
Das scheint vorerst abgewendet. Im Juli, so lese ich, sei Berlin nach Hamburg das regenreichste Bundesland gewesen. Ein sehr ehrenwerter zweiter Platz, noch vor Niedersachsen. Und es regnet kontinuierlich, nicht nur ein oder zweimal superheftig, bis der Gleimtunnel und die U-Bahnhöfe geflutet sind, wie es auch in den trockenen Jahren immer mal wieder vorkam. Nach 33 Jahren beginnt die fremde und staubige Stadt, sich ein bisschen anzufühlen wie Heimat.
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