Streift man an diesen Tagen durch das heiße und von Erwartung gleichsam elektrisch aufgeladene Arles, jene südfranzösische Kleinstadt, die sich Sommer für Sommer in das Mekka der Fotografie verwandelt, dann kann es passieren, dass man einen Mann auf einem älteren Fahrrad durch die Stadt radeln sieht, das Hemd verschwitzt, das blonde Haar leicht licht und ein wenig zerrupft, die Augen blaugrau, der Blick stets freundlich, als bringe ihm nichts aus dem Gleichgewicht.
Trägt der Radfahrer an den Füßen blaue Espadrilles, dann handelt es sich mit Sicherheit um Christoph Wiesner, den Chef der Rencontres d’Arles, des weltweit ältesten, größten und erfolgreichsten Fotofestivals, der von Termin zu Termin jagt.
Dieses Jahr kommt sein Festival auf die stolze Zahl von 47 Ausstellungen, verteilt auf die unterschiedlichsten Orte, darunter Kloster, Kirchen, antike Katakomben, Kulturzentren und selbst die oberste Etage eines Kaufhauses ist dabei. An die 4000 Fotos sind zu sehen. Und es werden gefühlt jedes Jahr mehr.
Die Rencontres d’Arles waren seit Gründung 1970 ein Erfolg, inzwischen ist es ein Event, das sich Fotografinnen aus New York, Werber aus Hamburg, Designer aus Berlin nicht entgehen lassen, ein freudig erwarteter Pflichttermin im Sommerkalender von Ästheten. Allein in der ersten Woche hat das Festival 23.000 Menschen in das abgelegene Arles gezogen, Fotografen, Künstler, Journalisten und interessierte Amateure.
Mittendrin steht Wiesner und lächelt. Er freut sich über den Erfolg. Aber der Erfolg gehe vor allem auf das Konto der „unbelehrbaren Bilder“, das ist der Titel des diesjährigen Festivals. Gemeint sind damit „Werke, die Widerstand leisten und den dominierenden Diskurs infrage stellen“, wie er es formuliert. Auf die Idee kam er, als US-Präsident Donald Trump auf einer Pressekonferenz ankündigte, wie er gegen Minderheiten vorzugehen gedenke.
Im Februar kam die Anweisung, aus den Fotos der Regierungsarchive einschließlich der des Verteidigungsministeriums alle Inhalte, die mit Trumps gehasster DEI-Dreifaltigkeit „diversity“, „equity“ und „inclusion“ (Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion) zu tun haben, zu entfernen. Es heißt, 26.000 Bilder sollen gelöscht worden sein, darunter auch versehentlich das des Hiroshima-Atombombers Enola Gay, benannt nach der Mutter des Piloten. Die künstliche Intelligenz (KI) machte bei der Suche nach anstößigen Inhalten im Schlagwörterkatalog keinen Unterschied zwischen „gay“ (schwul) und dem amerikanischen Familiennamen.#
„Das ist für mich der Beweis dafür, dass Bilder etwas zu sagen haben. Sie müssen Macht haben, wenn sie ausgelöscht werden sollen. Aber Menschen an amerikanischen Universitäten haben sich hingesetzt und Back-ups gemacht. Das zeigt die Widerstandsfähigkeit von Bildern, aber das Wort Widerstand ist zu stark und in Frankreich besetzt. Unbelehrbar gefiel mir gut“, sagt Wiesner, „weil es zum Nachdenken anregt und Rätsel aufgibt.“
Wiesner, seit 2020 an der Spitze des Fotofestivals, sticht in der Landschaft der französischen Kuratoren, Experten, Museums- und Festivalchefs heraus, weil er Deutsch-Franzose ist, oder, wie man in Frankreich sagen würde, „franco-allemand“. Die Reihenfolge zählt in diesem Fall. 15 Jahre hat er in Deutschland verbracht, fünf in Köln, wo er für die Galeristin Esther Schipper gearbeitet hat, zehn in Berlin im damals neu eröffneten Projektraum. Deshalb kann er Deutsch sprechen, mit einem leisen, leicht singendem Akzent, denn aufgewachsen ist er mit dem Französischen.
Seine französische Mutter und sein deutscher Vater lernten sich in der Türkei kennen. 1965 kam er in Gemünden am Main zur Welt, im unterfränkischen Landkreis Main-Spessart. Als er drei Jahre alt war, beschlossen die Eltern, nach Frankreich zu gehen. Am Anfang fragte Sohn Christoph immer nach „Wurscht“, aber die Leute verstanden nicht, was das Kind wollte, erzählte später seine französische Großmutter.
Die Kindheit in Frankreich, sagt Wiesner, war eine eher einsame. Er wuchs in Senlis, bei Chantilly auf. „Ich war schüchtern, ich habe lieber allein gespielt.“ Dem Vater haben die französischen Kollegen das Leben mitunter schwer gemacht und ihn als „boche“ bezeichnet, ein Schimpfwort für die Deutschen. Das Ende des Zweiten Weltkriegs lag keine 25 Jahre zurück, die Ressentiments waren noch nicht von der Zeit verschluckt.
Seine Karriere in der Kunstwelt hat Wiesner einem Streik in seinem Gymnasium zu verdanken. Weil der Unterricht ausfiel, setzte sich der Teenager heimlich mit einem Freund in einen Zug nach Paris. Der Plan war, in ein Museum zu gehen und sich einen Film von Woody Allen anzusehen. „Als ich das Centre Pompidou betrat und vor Henri Matisses Gemälde ‚Luxus, Ruhe und Sinnlichkeit‘ stand, wusste ich, dass ich etwas mit Kunst machen will.“
Wiesner studierte Museumskunde an der Pariser École de Louvre. Nach seiner Berliner Zeit folgte ein kurzes Intermezzo in der Galerie von Yvon Lambert in Paris, 2015 wurde er künstlerischer Leiter der Messe Paris Photo, fünf Jahre später wurde ihm die Leitung des Festivals von Arles angeboten.
Unter den „unbelehrbaren Bilder“ ist alles zu finden: Fotos der First Nations People aus Australien. Die neue Szene Brasiliens. Die sizilianische Fotografin Letizia Battaglia, die mutig den Terror der Mafia dokumentierte. Der Amerikaner Louis Stettner, dessen Arbeit eine Brücke zwischen der amerikanischen Street Photography und der humanistischen Schule Frankreichs bildete. Das Auge des Modeschöpfers Yves Saint-Laurent, das des Fotografen, aber auch das des Fotografierten. Faszinierend und berührend ist die „Eloge auf die anonyme Fotografie“, die die beiden Galeristen Marion und Philippe Jacquier aus ihrem reichen Fundus zusammengestellt haben.
Das Treffen von Arles hat im Jahr nach der Pandemie 145.000 Besucher angezogen. 2024 waren es 160.000. Dieses Jahr rechnet Wiesner mit noch mehr Andrang. Ob er nicht Angst habe, dass zu viel Erfolg das Festival killt? „Die Frage ist berechtigt“, sagt er bei einem Espresso im kleinen Hof des Festivalgebäudes sitzend. Aber er sieht darin eher eine Chance als eine Gefahr. „Arles ist eine kleine Stadt, aber die Kulturszene hat sich in den vergangenen Jahren vollkommen verändert, überall sind Stiftungen entstanden, die Stadt ist sehr dynamisch geworden, voller Energie.“
Die Entwicklung war rapide. Nur gut zehn Jahre hat es gedauert, aus einem schläfrigen 55.000-Einwohner-Städtchen, bekannt für seinen Mistral, seine Monumente aus der Römerzeit, seine Tauromachie und seine legendäre Armut, einen Magneten der Kulturszene zu machen. Als erstes eröffnete 2013 die Fondation van Gogh. Es folgte Luma, das großzügige, leicht größenwahnsinnige Projekt der Schweizer Kunstmäzenin Maja Hoffmann, Miterbin des Baseler Pharmakonzerns Hoffmann-La Roche, die Arles mit einem Bau des amerikanischen Stararchitekten Frank Gehry und Ausstellungen von Weltklasse einen Platz auf der Landkarte der zeitgenössischen Kunst verschafft hat. 2022 eröffnete der koreanische Künstler Lee Ufan seine Stiftung in einem Stadtpalast aus dem 16. Jahrhundert, den wiederum der japanische Stararchitekt Tadao Ando behutsam entkernt und in eine Art Kunst-Kloster der Moderne verwandelt hat.
In diesen Tagen erzählte man sich in Arles, dass der französische Künstler Jean-Marc Bustamante, der bis vor zehn Jahren eine Professur an der Münchner Akademie der Bildenden Künste innehatte, die Kirche Sainte-Croix gekauft hat, aus der er ebenfalls eine Stiftung für Gegenwartskunst machen will. Rachida Dati, die französische Kulturministerin, hat bei ihrem Besuch auch noch ein Museum für Fotografie angekündigt. Die Kulturszene ist so unbelehrbar wie die Bilder: Sie wird langfristig das alte Arles verschlucken. Nur noch Erinnerungen werden übrig bleiben. Nur unbelehrbare Bilder.
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