Jedes Jahr dasselbe: pünktlich zu Beginn der Sommerferien gibt es Klagen über die „Einser-Schwemme“ beim Abitur. So auch dieses Jahr. Obwohl die Zahlen wegen der unterschiedlichen Abitur- und Ferientermine noch gar nicht aus allen Bundesländern vorliegen, kritisiert vorsorglich der Präsident des Deutschen Lehrerverbands die „Flut an Einser-Abis“, beklagt der CDU-Bundestagsabgeordneter Christoph Ploß, das Abi werde „immer mehr entwertet“.
Und dann wird das Thema wieder vergessen bis zum nächsten Sommerloch und den nächsten Klagen und dem nächsten Vergessen.
Ein „Einser-Abitur“ ist nicht ein Abi mit dem Traumschnitt 1,0. Sondern mit einem Schnitt zwischen 1,0 und dem erheblich weniger unwahrscheinlichen 1,9. Legt man die Gauß’sche Normalverteilung zugrunde, müssten 13.5 Prozent der Abiturienten ein Einser-Abitur hinlegen. Da hauptsächlich Schüler und Schülerinnen mit überdurchschnittlicher Begabung und Lernmotivation in die Oberstufe kommen, wären 20 Prozent Einser-Abis durchaus erwartbar.
So lang 2019 etwa Schleswig-Holstein, wo Abiturienten regelmäßig die schlechtesten Noten erzielen, mit 17,3 Prozent Einser-Abiturienten noch unter diesem Wert. Fünf Jahre später waren es schon 23,5 Prozent. Thüringen aber hatte 2019 schon mehr als doppelt so viele Einser-Abiturienten als das Land zwischen Nord- und Ostsee, nämlich 37,9 Prozent. Fünf Jahre später hatte Thüringen den Einser-Anteil auf sagenhafte 40,7 Prozent gesteigert. Auch Sachsen mit 34,7 und Brandenburg mit 34,6 Prozent Einser-Abiturienten ließen Schleswig-Holstein, aber auch Niedersachsen mit 24,8, Rheinland-Pfalz mit 25,3 und Nordrhein-Westfalen mit 27,7 Prozent weit hinter sich.
Ostdeutsches Phänomen
Die Einser-Schwemme ist vor allem ein ostdeutsches Phänomen. Zu den sechs Ländern mit der höchsten Quote an Einser-Abis gehören alle fünf ostdeutschen Länder; die wenigsten gibt es im Norden und Westen. Das Bild wiederholt sich bei den allgemeinen Abiturnoten. Hier gibt es seit Jahren eine schleichende Inflation. Die Abiturdurchschnittsnote in Deutschland lag vor 20 Jahren bei 2,5. Vor zehn Jahren war sie 2,45 und letztes Jahr 2,35. Schleswig-Holstein hatte aber letztes Jahr mit 2,48 eine Durchschnittsnote, die dem Schnitt von 2005 entspricht, Thüringen sagenhafte 2,13.
Man kann natürlich unterstellen, dass es in Ostdeutschland besonders intelligente Schüler und engagierte Lehrkräfte gibt, im Norden und Westen der Republik hingegen weniger kluge Kinder und fleißige Lehrer. Das kann man aber auch bezweifeln. Denn bei einheitlichen länderübergreifenden Tests schneiden die östlichen Länder keineswegs einheitlich gut ab.
Beim „Bildungsmonitor“ der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft etwa schnitt 2024 Sachsen zwar am besten ab, vor Hamburg, Bayern und Thüringen, belegte Brandenburg aber den vorletzten Platz vor Bremen; auch Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern landeten auf den hinteren Plätzen. Beim „IQB Bildungstrend“ aus dem gleichen Jahr belegte Sachsen den ersten, Thüringen aber den vorletzten Platz. Und obwohl Schüler mit Migrationshintergrund den Leistungs- und Notendurchschnitt senken, was sich im Westen der Republik stärker auswirkt als im weniger migrantenfreundlichen Osten, stellte man beim PISA-E-Vergleichstest fest: Schüler ohne Migrationshintergrund aus Sachsen-Anhalt oder Brandenburg schnitten schlechter ab als Schüler mit Migrationshintergrund aus Bayern.
So liegt es nahe, die Ursachen für Einser-Schwemme und Noteninflation eher in strukturellen Problemen zu suchen: etwa im Zusammenspiel zwischen Numerus Clausus und Bildungsföderalismus. Wenn es einerseits für fast ein Drittel aller Studienplätze in Deutschland einen Numerus clausus gibt, besonders für beliebte Fächer wie Medizin, Zahnmedizin, Tiermedizin, Pharmazie, Psychologie, Jura, BWL, Kommunikationswissenschaften und sogar das Lehramt, und wenn andererseits manche Bundesländer bei der Notengebung besonders großzügig sind, so liegt es nahe, dass andere Länder ihrem schlechten Beispiel folgen. Und so werden Jahr für Jahr die Abiturnoten besser, gibt es immer mehr Einser-Abiturienten, während Deutschland in den internationalen PISA-Tests immer schlechter abschneidet und unter den 25 weltbesten Hochschulen keine einzige deutsche zu finden ist.
Vielleicht wäre es ehrlicher, die Fiktion einer allgemeinen Hochschulreife und eines vergleichbaren Abiturs aufzugeben und nur noch Abschlussprüfungen auf Länder- oder gar Schulebene durchzuführen, gleichzeitig den Numerus clausus abzuschaffen und den Hochschulen erlauben, ihre Studenten selbst auszuwählen. Schnell würde sich herumsprechen, wo man tatsächlich die Studierfähigkeit erwirbt, welche Noten aussagekräftig und welche gut gemeinte Fantasieprodukte sind.
Oder aber man nimmt das Gebot der Chancengleichheit ernst und führt ein bundeseinheitliches Abitur ein, das extern bewertet wird. Beides wäre besser als die jetzige Situation, in der man schon jetzt die Meldungen über Einser-Schwemme und Noteninflation für das Sommerloch 2026 und die Folgejahre vorschreiben kann.
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