2015 reisten junge Britinnen nach Syrien, um sich dem Islamischen Staat anzuschliessen: kein Abenteuer, kein Liebesversprechen, keine politische Forderung – der Ideologie wegen. Leor Zmigrod, Neurowissenschaftlerin in Cambridge, fragte sich: Was passiert im Kopf, wenn der Glaube stärker wird als die eigene Freiheit?

Diese Frage zündet ihr Buch «Das ideologische Gehirn», und sie brennt durch alle Kapitel. Es geht um Extremismus, Denkstile, Nervenbahnen. Aber eigentlich geht es um die älteste Frage der Welt: Warum glauben Menschen, was sie glauben? Wie entstehen ideologische Überzeugungen? Und: Lässt sich das messen?

Blackbox Ideologie

Leor Zmigrod will Unterschiede gefunden haben – zwischen Menschen, die empfänglicher sind für autoritäre Ideologien, und jenen, die es nicht sind. Sie will sichtbar machen, was genau im Kopf passiert, wenn sich Überzeugung verhärtet.

Legende: Leor Zmigrod ist ein «Neuro-Shootingstar». Mit ihrer Forschung zur kognitiven Rigidität und dem Bestseller «Das ideologische Gehirn» gilt sie als Pionierin der politischen Neurobiologie. Stuart Simpson/Suhrkamp Verlag

Zmigrod blickt dafür in die Blackbox politischer Überzeugungen – und ihr Buch ist vielleicht eine Zumutung. Denn: Wer glaubt, ideologiefrei zu sein, ist vermutlich einfach nur nicht aufmerksam genug.

Wenn kluge Köpfe sich radikalisieren

Und damit zur ersten Überraschung: Zmigrod ist jung. 1995 geboren, eine dieser Forscherinnen, deren Lebenslauf das eigene Linkedin-Profil in eine müde Excel-Tabelle verwandelt: Promotion in Oxford, unterrichtet in Cambridge, geforscht in Stanford und Harvard, «Forbes 30 under 30», Mitbegründerin des Forschungsfelds der politischen Neurobiologie. Sie berät Regierungen, ihre Arbeiten erschienen in renommierten Fachzeitschriften. Sie hat zu Radikalisierung, kognitiver Kontrolle und autoritären Neigungen publiziert – alles Themen, die sie nun in diesem Buch bündelt, rund um die Frage: Warum radikalisieren sich kluge Köpfe?

Zmigrods These fällt mit der Tür ins neuronale Haus: Ideologie ist keine bewusste Entscheidung, sondern eine Neigung, die tief im Denken verankert ist. Menschen neigen aus psychologischen und neurologischen Gründen zu bestimmten politischen Überzeugungen. Wer starr denkt, denkt eher extrem. Wer flexibel denkt, ist toleranter – so das grobe Raster.

Die Wissenschaftlerin spricht von «kognitiver Rigidität» und «kognitiver Flexibilität». Ersteres könne, so Zmigrod, politische Starrheit begünstigen – Dogmatismus, Ideologie, Schwarz-Weiss-Denken. Kognitiv flexiblere Menschen seien toleranter, könnten andere Meinungen besser akzeptieren und seien auch Ideologie-resistenter.

Gehirne – von zäh bis flexibel

Dass manche Denktypen «von Natur aus» ideologieanfälliger sind, klingt wie eine Reanimation alter Vorurteile. Zmigrod will dies empirisch belegen – mit Gehirnscanner-Daten, experimenteller Psychologie und Genetik.

Die Hirnforscherin bat ihre Probanden etwa, Karten zu sortieren. Mitten im Test änderten sich die Regeln. Manchen fiel es leicht, sich umzuorientieren, andere brauchten lange. Für Zmigrod öffnet sich hier ein Fenster: Wie schnell oder zäh ein Gehirn auf den Regelwechsel reagiert, könnte mit ideologischer Anfälligkeit zusammenhängen. Kein Beweis, aber ein Hinweis – einer von vielen.

Sehnsüchte, Zugehörigkeit, Rituale

In anderen Tests wurde die Kreativität gemessen. Probandinnen wurde ein Ziegelstein gezeigt und gefragt: Wozu taugt das? Die Antworten reichten von «Haus bauen, Brücke bauen, Schloss bauen» bis «Brief beschweren, Knoblauch pressen, Tür stoppen». Dazwischen lag die Kreativitätsspanne, gemessen wurde die «generative Flexibilität».

Was das über politische Überzeugungen verrät? Ziemlich viel, meint Zmigrod – und weitet den Blick. Im Buch geht es um Islamismus, den Brexit, Öko-Fanatismus, Kommunismus – Ideologien, die laut Zmigrod komplexe Weltfragen auf einfache Wahrheiten herunterbrechen. Sie liefern eindeutige Feindbilder und stillen zwei Sehnsüchte des Gehirns: Klarheit und Zugehörigkeit.

Ideologien, so Zmigrod, sind nicht nur Konstrukte, sondern auch kognitive Strategien. «Das Gehirn liebt Regeln. Es liebt Rituale. Und manche Gehirne lieben sie mehr als andere.» Zmigrod schaut nicht nur auf Karten und Ziegel, sondern auch ins Gehirn, ins Erbgut, in Wahlstatistiken. Aus diesen Splittern formt sie ein Bild: wie Denken, Persönlichkeit und Politik zusammenhängen.

Heikles Terrain

Zmigrods Forschung findet international Beachtung. Sie selbst wirkt in Interviews vorsichtig. Vielleicht, weil sie weiss, wie heikel das Gelände ist. In einem Klima, in dem jede Zuschreibung als Stigmatisierung gelesen wird, ist die Idee, dass politische Einstellungen biologisch mitbedingt sind, ein Pulverfass. Ihre Antwort: Differenzierung.

Nicht jedes rigide Gehirn wählt autoritär, nicht jede Flexibilität führt zu Toleranz. Zwischentöne sind obligatorisch – und Zmigrod versucht sich da durchzumanövrieren – «mit dem Mikroskop einer Wissenschaftlerin, der Sorge einer Philosophin, der Hoffnung einer Humanistin». So betont sie immer wieder die Plastizität des Gehirns. Sie sagt nicht: «So sind Menschen eben.» Sie sagt: «So könnten sie werden – aber auch anders.»

Zu kurz gedacht?

Und doch bleibt das grösste Fragezeichen: das Henne-Ei-Problem. Formt Ideologie das Denken – oder formt Denken die Ideologie? Zmigrod nennt es ihr «spannendstes ungelöstes Rätsel».

Legende: Sind Ideologien womöglich neurobiologisch bedingt? Dieser Frage widmet sich Leor Zmigrod. Aber: Das neue Forschungsgebiet kommt nicht ganz ohne Fallstricke. IMAGO/Dreamstime

Sie stellt plausible Zusammenhänge her – und steht doch immer wieder an der Grenze zur biologistischen Verkürzung. Was ist mit Gesellschaft, Geschichte, Geld? Mit Gruppenzwang, Stress, sozialem Ausschluss? Zmigrod erwähnt das – streift es aber nur.

Manchmal wirkt ihre Argumentation wie eine neuronale Abkürzung durch politische Landschaften. Und doch: Was sie zeigt, ist wertvoll. Weil es hilft, Verhalten zu verstehen, bevor es zu Gewalt wird.

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