Mit der schlichten Frage „Was wäre, wenn?“ kann man manchmal ungeplant in ein zweites, anderes Leben geraten. In ihrem Debütroman „Im Leben nebenan“ kontrastiert die Autorin Anne Sauer zwei Versionen eines Frauenlebens: das der Protagonistin Antonia, die sich – wie in einem bizarren Traum – plötzlich nicht mehr in der Großstadt mit ihrem Partner Jakob, sondern in ihrem alten Heimatdorf wiederfindet. Ausgestattet mit Ehering, Gemeinschaftskonto und einem Neugeborenen auf dem Arm, lebt sie an der Seite ihres Ex-Freundes Adam, den sie doch längst verlassen hatte.

Der Klang des „Mülltonnengrollens“, das beständige Rasenmähen und die überfürsorgliche Schwiegermutter von nebenan erzeugen eine provinzielle Atmosphäre, die im Kontrast zur flirrenden Großstadt steht. Ein scharfer Gegensatz zum bekannten Großstadtleben, der Antonia in eine Krise stürzt.

In einem erzählerischen Sog wechseln sich mit jedem Kapitel die beiden Versionen des Lebens ab. Nur die Erinnerung an das frühere, kinderlose Stadtleben, in dem die Protagonistin unter dem verkürzten Namen „Toni“ auftritt, verknüpft beide Erzählstränge. Die alternierenden Episoden wirken wie wechselseitige Korrektive, als würde jedes Leben dem anderen einen Spiegel vorhalten. In diesen Spiegel blickt Antonia etwa, als Adam fragt: „Was ist verkehrt an diesem Leben?“ – eine Frage, die sowohl im Raum der Kleinfamilie gestellt wird, als auch an die Lesenden gerichtet scheint. So entsteht über die Buchlänge ein Dialog zwischen Mutterschaft und kinderloser Autonomie.

Antonia auf dem Land zeigt sich als beanspruchte Mutterfigur, die sich jedoch gegen äußere Erwartungen behauptet und somit sie ihr neues Selbst konstituiert. Toni in der Stadt hingegen erfährt ihre existenzielle Erkenntnis nach dem Baden im Meer und dem Masturbieren mit blutverschmierten Fingern – ein Zeichen der erneut gescheiterten Schwangerschaft: Dass unter der Wasseroberfläche, sinnbildlich für ein Leben ohne Kind, nichts Bedrohliches lauere, nicht alles bloß dunkel sei. Auf diese Art wandeln sich beide Figuren, indem sie die Wirklichkeit der jeweils anderen spüren.

Der Sprachgestus dieses Debütromans ist von wiederholender Selbstbefragung geprägt: Immer wieder geht es um Themen wie weibliche Identität, Nachwuchs und gesellschaftlicher Zuschreibung: „Wie wäre das, wenn ihr Kind sie morgens aus dem Bett holen würde, ihre Zeit einfordern würde wie eine Maschine?“ oder „Warum hatte sie den Müttern nicht geglaubt, ihren Augenringen und eingefallenen Wangen, ihren ungewaschenen Haaren und ihren leeren Blicken?“

Die Erzählweise ist popkulturell getönt, die Handlung ohne komplexe Verästelungen. Sauers Schreiben profitiert von ihrer Tätigkeit als Bookfluencerin und Buch-Jurorin. Bereits vor diesem Debütroman schrieb Anne Sauer einen Essay über Taylor Swift, der es auf die „Spiegel“-Bestsellerliste schaffte.

Die grundlegende Frage „Kinder zu bekommen (…) oder keine bekommen zu wollen?“ zieht sich leitmotivisch durch den Roman und breitet ein subtiles, doch wirkungsvolles Gedankenspiel aus. „Im Leben nebenan“ provoziert Reflexion, Reibung und Anerkennung. In dieser Form, wie das schiere Erzählverfahren die Differenz unterschiedlicher weiblicher Lebensentwürfe suggestiv zur Geltung bringt, unterscheidet sich Anne Sauers Roman vom Gros der Debattensachbücher von „Regretting Motherhood“ bis „Söhne großziehen als Feministin“.

Anne Sauer: Im Leben nebenan. Roman. dtv, 272 Seiten, 23 Euro

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