Es war ein unglaublich ergreifender Moment: Bei einem Konzert vor gut zwei Jahren in der Frankfurter Festhalle konnte der schottische Sänger Lewis Capaldi seinen Song «Someone You Loved» aufgrund eines Tics, verursacht durch sein Tourette-Syndrom, nicht zu Ende singen. Capaldi stand plötzlich zuckend auf der Bühne, seine Stimme versagte.
«Mein Herz geht auf»
Doch dann geschah etwas Wundervolles: Die Fans sangen den Song für ihn weiter. Ein magischer Moment, der viele zu Tränen rührte. Ein intensiver Moment, der aus dem Nichts kam und unvergessen bleibt. «Mein Herz geht auf» und «Gänsehaut, wie sich alle Stimmen zu einer verbinden» hiess es in den Kommentaren unter dem Video, welches zig millionenfach angeschaut wurde.
Wir können solche Momente nicht planen, selbst wenn wir an ein Konzert pilgern. Sie geschehen einfach, fallen uns zu, ja werden uns geschenkt. Die meisten von uns erinnern sich vermutlich an solche Momente: als wir zum ersten Mal Polarlichter sahen, uns Hals über Kopf verliebten oder zum ersten Mal überwältigt und staunend unserem Kind in die Augen schauten.
Mit der Welt in einer Einheit
Man fühle sich in diesen Momenten aufgehoben, sagt der Psychiater und Psychotherapeut Gregor Hasler. Man habe das Gefühl, man stehe mit der Welt in einer Einheit. Diese Einheit könne auch aus dem Nichts entstehen. Es braucht dazu kein Gipfelerlebnis auf dem Kilimandscharo und auch nicht die transformatorische Erfahrung eines schamanischen Ayahuasca-Rituals.

Intensität entsteht auch schon dort, wo wir «bei der Sache» sind, wo wir fokussiert sind. Dieser Zustand wird auch «Flow» genannt.
«Flow» beschreibt ein Gefühl völliger Vertiefung und Konzentration in einer Tätigkeit, bei der man sich vollständig im Moment verliert und alles um sich herum vergisst. Dieser Zustand wird oft als beglückend und mühelos empfunden. Er tritt auf, wenn die Anforderungen der Aufgabe perfekt mit den eigenen Fähigkeiten übereinstimmen.
Der Begriff wurde vom ungarischen Psychologen und Glücksforscher Mihály Csíkszentmihályi geprägt. «Flow» ist ein Moment, in dem man aktiv ist, sagt Gregor Hasler. Zum Beispiel während des Tanzens, des Schachspielens oder des Kletterns in der Natur. Im «Flow» nehmen wir das Selbst nicht mehr wahr.
Für den «Flow» brauche es aber eine Aktivität, eine Herausforderung. Sich einen Tag freinehmen und in der Hängematte liegen, erzeuge meist keinen «Flow».
Das richtige Mass an Herausforderung
Kinder befinden sich besonders häufig in diesem «Flow»: Sie verlieren sich im Spiel, Zeit und Raum spielen keine Rolle mehr, die Zeit hebt sich gar auf. Der Körper, und nicht die Zeit, managt uns im Hier und Jetzt.
Was tun, wenn man mehr «Flow» im Leben haben möchte? Ideal ist es, so Hasler, wenn man ein Hobby pflegt, welches genau die richtige Herausforderung bringt. Im Idealfall findet sich diese Herausforderung auch im Beruf.

Während man den «Flow» zumindest aktiv anpeilen kann, ist die sogenannte «Peak Experience» – das Gipfelerlebnis – ein passiver, positiver, transzendenter Bewusstseinszustand. Dieser ist durch intensive Freude, Euphorie und ein Gefühl der Verbundenheit gekennzeichnet – und er lässt sich nicht erzwingen. Es ist ein Moment, in dem man sich lebendiger, erfüllter und ganzheitlicher fühlt als im Alltag.
Der Gänsehaut-Moment
Der Begriff stammt vom amerikanischen Psychologen Abraham Maslow in den 1940er-Jahren, der ihn als einen wichtigen Bestandteil der Selbstverwirklichung betrachtete. Diese Gipfelerlebnisse, diese unverfügbaren Glücksmomente, seien seltener als der «Flow», sagt Hasler.
Wer zum Beispiel in einem Chor singt, die Zeit vergisst, sich freut und aufgehoben fühlt, der ist im «Flow». Wenn dann plötzlich ein perfekter Akkord folgt und die Verzückung ihren Höhepunkt erreicht, der Gänsehaut-Moment folgt, dann kann das bis zu einer «Peak Experience» führen. Es sind gemäss Maslow erhabene, ozeanische, tief bewegende Erfahrungen, die eine andere Form von Realitätswahrnehmung ermöglichen.
Intensive Momente sichern unser Überleben
Auch Religionen ermöglichen vielen Menschen intensive Momente, Momente der gefühlten Ganzheit. Dies sei uns in der säkularen Welt zu einem grossen Teil abhandengekommen, so Hasler.

Dabei hätten diese Momente eine explizite psychologische Funktion: Sie würden uns unser Verbunden-Sein und unsere Ganzheit vor Augen führen und schliesslich unser Überleben sichern. Warum? Weil wir damit ins Handeln kommen, uns um sozialen Zusammenhalt bemühen oder dem Erhalt der Umwelt verschreiben.
Ein Zustand «wie Honig»
Gregor Hasler sagt, dass es in den Upanishaden ein perfektes Beispiel gibt, was solche «Gipfelerlebnisse» beschreibt. Die Upanishaden sind eine Sammlung philosophischer Schriften des Hinduismus. Sie wurden zwischen 700 und 200 v. Chr. niedergeschrieben.
Ein Vater unterrichtet in einer dieser Geschichten seinen Sohn in Spiritualität und prophezeit ihm Zustände «wie Honig»: Tausende von Bienen haben Tausende von Blüten besucht und den Nektar gewonnen. Am Schluss bleibt dieser ganze Aufwand unsichtbar und nur eines bleibt übrig: Honig. Der Honig als erhebende Einheitserfahrung.
Für andere da sein
Es braucht nicht unbedingt spirituelle Erlebnisse, um zu erhabenen Momenten zu gelangen. Bei den sogenannten «Awe-Feelings», wie es der US-amerikanische Moralpsychologe Dacher Keltner in seinem Buch «Awe – The Transformative Power of Everyday Wonder» beschreibt, ist beispielsweise auch von «moral beauty», von moralischer Schönheit, die Rede.

Hierbei geht es um ein positives Gefühl des «Gebrauchtwerdens», also für jemanden da zu sein, und weniger um ein spirituelles Gefühl. Das Ich tritt in den Hintergrund, wird transzendiert und für eine gute Sache geopfert. Die Folge ist ein existentielles Staunen, ein tiefes Berührt-Sein.
Die alltäglichen Wunder
Dacher Keltner hat solche Momente rund um den Globus studiert. Dazu gehören die Geburt eines Kindes, der Tod eines Menschen, intensive Naturerlebnisse, mystische, religiöse Erfahrungen. Genau in diese Kategorie gehört vermutlich auch der, eingangs erwähnte, magische Moment am Lewis Capaldi-Konzert.
Übrigens: Lewis Capaldis letztes Album trägt den Titel «Broken By Desire To Be Heavenly Sent». Auf Deutsch: «Gebrochen durch den Wunsch, himmlisch gesandt zu sein». Vielleicht eine vage Erinnerung an jenen magischen Moment, als er in der Not von seinem Publikum aufgefangen und getragen wurde.
Und vielleicht auch der Grund, warum er nach zwei Jahren Pause auf genau derselben Bühne vor wenigen Tagen die Menschen wieder zu begeistern vermochte.
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