Die Gaming-Industrie ist mit einem globalen Jahresumsatz von 184 Milliarden US-Dollar mittlerweile mehr als doppelt so groß wie Hollywood. Die Budgets reichen in Milliardenhöhen und Blockbuster wie „Call of Duty“, „GTA“ oder „The Last of Us“ sind perfektionierte Unterhaltungsmaschinen. Doch in den Ritzen dieser digitalen Glanzbauten wuchert ein anderes, weitaus seltsameres Leben. Dort, wo Programmierer ganz allein oder in winzige Garagen-Studios Spiele designen, die zwischen Satire, Wahnsinn und Genie schwanken. Eine Auswahl der skurrilsten Indie-Games der letzten Jahre.
„I am Jesus Christ“ – Das göttliche Rollenspiel
Was wäre, wenn man Jesus spielen könnte? In der Ego-Perspektive? Mit Quest-Logbuch, Gesundheitsanzeige und Wunder-Mana? „I am Jesus Christ“ macht genau das möglich. Im Bibel-Spiel des polnischen Entwicklers „Space Boat Studios“ wandelt der Spieler durch Galiläa, heilt Kranke, verwandelt Wasser in Wein, wird gekreuzigt – und ersteht natürlich wieder auf.
Die Entwickler betonen ihre Ehrfurcht vor dem Thema, doch was bleibt, ist ein unfreiwillig komischer Clash aus Bibelstunde und Videospiel-Hokuspokus. Wenn Jesus „Quests im heiligen Land“ abschließt und dabei seine Fähigkeiten auflevelt, denkt man mehr an Skyrim als an das Matthäus-Evangelium. Sakraler Trash oder religiöse Medienkunst? Wahrscheinlich beides. Nach langer Verzögerung soll das Spiel im Oktober diesen Jahres erscheinen.
„Graveyard Keeper“ – Die morbide Lebenssimulation
„Graveyard Keeper“ ist ein bereits 2018 erschienenes Pixelart-Rollenspiel, in dem main die Rolle eines Mannes schlüpft, der auf dem Heimweg von einem Auto erfasst wird – und sich plötzlich in einer düsteren, mittelalterlichen Parallelwelt wiederfindet. Dort angekommen, wird ihm ohne viel Federlesens das Amt des Friedhofswärters übertragen – inklusive Leichenentsorgung.
Was zunächst wie eine makabre Lebenssimulation wirkt, entpuppt sich schnell als tiefgründiges Abstiegsspiel in eine Welt voller absurder Rituale und moralischer Grauzonen. Per Esel kommen in regelmäßigen Abständen frische Leichen an. Um all das zu bewältigen, sammeln wir Ressourcen, hacken Holz, fördern Metalle und verbessern Werkzeuge. Dabei ist die Friedhofspflege nur der Anfang. Bald erweitern wir unsere Zuständigkeiten um Alchemie, Untergrundpolitik, Kirchenverwaltung und dunkle Rituale.
Hinter all dem offenbart sich eine komplexe Geschichte, in der es letztlich darum geht, ein mystisches Portal zu öffnen – zurück in unsere eigentliche Realität. Aber bis dahin vergehen gut und gerne 70 Spielstunden. Das Spiel erinnert an den Farminghit „Stardew Valley“, nur dass der Spieler statt Karotten und Salat Leichenteile und Kollekte im Gottesdienst „farmt“. Satirisch, düster und mit bedauerlichem Sucht-Faktor.
„Death of the Reprobate“ – Monty Python in der Renaissance
Das im November 2024 erschienene „Death of the Reprobate“ ist ein groteskes Point-and-Click-Adventure, das sich wie eine obszöne Collage aus der Renaissance anfühlt. In der Rolle von „Malcolm the Shit“, einem niederträchtigen, größenwahnsinnigen Erben, müssen wir sieben gute Taten vollbringen, um auf den Thron des todkranken Vaters zu steigen – ein Unterfangen, das sich schnell als absurd-satirische Läuterungsreise entpuppt.
Das Spiel, das in Eigenregie eines jungen Entwicklers namens Joe Richardson entstand, kombiniert ikonische Gemälde von Brueghel, Rubens oder Cranach zu einer bewegten Bilderwelt. Sakrale Renaissance-Kunst trifft auf schmutzigen Humor. Man klickt sich durch Dörfer und Prunkhäuser, trifft auf sprechende Affen mit Hüten, am Seil baumelnde Nackte und Frauen, die stolz Bilder von männlichen Hinterteilen präsentieren. Die Dialoge pendeln zwischen barocker Anmut und derber Fäkalsprache.
Immer wieder bricht das Spiel die vierte Wand, kommentiert sein eigenes Design, parodiert die Kunstgeschichte und stellt Fragen über Gewalt und Moral. Wer will, kann auch einfach die Kunst genießen – oder sich an ihr versündigen. Ob das dann blasphemisch ist oder genial, muss jeder Spieler selbst entscheiden.
„Pony Island“ – Höllenritt im Spielautomaten
„Pony Island“ ist kein Pony-Spiel. Es ist ein Spiel über ein Pony-Spiel – das von einem Dämon manipuliert wird. Der Spieler befindet sich einer defekten und bösartigen Arcade-Maschine, die bald zu kommunizieren beginnt und das an sich harmlose „Ponyrun“-Spiel hackt. Das spielerische Meta-Horror-Erlebnis durchbricht in einer Mischung aus Puzzle, Glitch und Code-Manipulation die vierte Wand und schickt das Pony des Spielers schließlich gegen den Teufel höchstpersönlich in den Kampf.
Auch die Musik driftet im Laufe der Handlung ab. Die harmlos-verspielten 8-Bit-Klänge zu Beginn verzerren zunehmend, schräge Synths und düster Ambient-Flächen nehmen überhand – als ob der Soundtrack selbst vom Teufel manipuliert würde. Ein beeindruckendes Spiel, das mit minimalem grafischem Aufwand zeigt, was aus dem Medium „Videospiel“ rauszuholen ist. Der Nachfolger „Pony Island 2“ soll noch dieses Jahr erscheinen.
„Horses“ – Farming wie mit David Lynch
In diesem rätselhaften Ego-Adventure, von dem es bisher nur Trailer und eine Pressemappe gibt, schlüpft der Spieler in die Rolle eines Saisonarbeiters, der sich um den Bauernhof kümmern soll. Geleitet von den kryptischen Regeln eines mysteriösen Bauern entscheiden die Spieler, ob sie auf Nummer sicher gehen oder sich von der Neugier in die verborgenen Tiefen des Hofs führen lassen wollen. „Horses“ verweigert klassische Spielmechaniken – es gibt keine Missionen, keine Erklärung. Stattdessen begegnet man einer kargen, unheimlichen Welt, in der Sprache nur noch als Texttafel auftaucht – ganz im Stil alter Stummfilme.
Das Spiel des italienischen Regisseurs Andrea Lucco Borlera ist eine Collage aus Live-Action-Videosequenzen, die Borlera eigenhändig inszeniert und geschnitten hat. Ursprünglich als Notlösung für technische Beschränkungen gedacht, entwickelte sich diese stilistische Entscheidung zum Markenzeichen: „Horses“ wirkt dadurch wie ein interaktiver Experimentalfilm, der zwischen Performancekunst, Traumlogik und albtraumhafter Körperlichkeit pendelt. Nachdem vor zwei Jahren bereits ein erster Trailer erschien, soll das fertige Spiel im Herbst veröffentlicht werden.
„Sex with Stalin“ – Der Diktator als Dating-Objekt
Weniger fromm, aber nicht minder absurd ist „Sex with Stalin, eine 2020 erschienene russische Graphic-Novel, in der man durch eine Zeitreise im Kreml landet – und ein „intimes“ Gespräch mit dem Sowjetdiktator beginnt. Ziel ist es, den Diktator zum Sex zu überreden. Das Spielt ist ein simpler Dialog-Simulator, der zwischen kommunistischer Weltanschauungen, Pick-up-Lines und Anzüglichkeiten changiert. Das an den Grenzen des guten Geschmacks kratzenden Spiel versteht sich als Satire auf totalitäre Ideologien und ist eine Parodie auf Dating-Simulationen. Mittlerweile ist das Spiel in Deutschland wegen der strengen Jugendschutzvorgaben auf der Spieleplattform Steam nicht mehr zu bekommen. Spielerisch ist das kein allzu großer Verlust.
Was all diese Spiele verbindet, ist nicht nur ihre Exzentrik, sondern ihre Fähigkeit, die Grenzen des Mediums neu auszuloten. Sie sind Satire, Performance, Meme, manchmal auch Trash. Sie führen die Regeln der Triple-A-Videospielindustrie ad absurdum, die immer mehr gesellschaftskonforme und massentaugliche Produkt auf den Markt wirft. In den hier vorgestellten Spiele lebt noch der Geist aus den Anfangszeiten der Gaming-Industrie – absurd, nerdig, anarchisch, provokant.
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