Es ist die Krux der Oper, dass sie zu 90 Prozent von einem Repertoire zehrt, das über 100 Jahre alt ist. Zwar wurden in diesen Kanon in den vergangenen Jahren viele lange vergessene Opern der Barockzeit wiederaufgenommen, aber jünger wird er so auch nicht. Schon aus dem 20. Jahrhundert zeigten sich nur wenige Opern weltweit überlebensfähig; von den musiktheatralischen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts erst gar nicht zu reden. Trotzdem werden ständig neue Opern in der Hoffnung uraufgeführt, die eine oder andere möge doch Bestand haben.

Gerade, zum Saisonschluss, kommt es nun noch einmal besonders Novitäten-dicke. Ende Juni beschwört die Oper Köln „Die letzten Tage der Menschheit“ nach Karl Kraus, komponiert hat Philippe Manoury. In Stuttgart wurden Ulrike Meinhof und die RAF-Fraktion familientauglich harmlos und niederschwellig als „Der rote Wal“ verrappt. Und eben gab es drei neue Opern in Wien und Berlin, die Frauen in den Mittelpunkt stellen.

Sind die Frauen doch – nicht wenige feministische Autorin haben sich an dem Vorwurf abgearbeitet – in dieser selbstredend männlich dominierten Kunstform die meiste Zeit immer nur Opfer: passiv, Objekt, Fetisch. Sie werden zwangsverheiratet, dann wahnsinnig, sind Megären und Monster, Femmes fatales oder Hexen. Und am Ende sind sie in der Regel tot.

„Voice Killer“ im Theater an der Wien

Gleich drei tote Frauen gibt es wenig überraschend in „Voice Killer“, dem fünften Musiktheater des tschechischen Komponisten Miroslav Srnka und seinem australischen Librettisten Tom Holloway. Wie nahe kommen wir einem Menschen durch dessen Stimme? Und was wiederum hat den verhaltensauffälligen Täter, der später hingerichtet wurde, auf die Stimme seiner Mutter fokussiert, die er nun in ihnen suchte und offenbar abtöten wollte?

So fragen die Autoren und bearbeiten einen wahren Kriminalfall um einen Soldaten auf einem US-Stützpunkt in Australien während des Zweiten Weltkriegs. Besessen von der Stimme seiner Erzeugerin, die ihm Kinderlieder vorsang, suchte dieser Soldat jene vergeblich bei Frauen, denen er zufällig begegnete.

Stimme der toten Mutter? Das erinnert sehr deutlich an Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“, wo eben jene als ambitionierter Geist aus der Vergangenheit ihre Tochter, die schwindsüchtige Sängerin Antonia, zum Üben auffordert und so in den Erstickungstod treibt. Singen als Gefahr, das funktioniert in diesem komisch-fantastischen Romantikspektakel weit besser als in dem sich so viel offensiver gebenden, ja fast reißerisch betitelten „Voice Killer“.

Die erste Hälfte von nur 100 Minuten Spielzeit im Theater an der Wien hören wir fast gar nichts, es wird gesprochen, Klangfetzen, gern Papiergeknister, müssen genügen. Die Musik scheint sich ausdauernd zusammenzuknüllen, nur nach innen zu strahlen, wirkt löchrig, unausgegoren, unfertig. Erklärt wird auch nichts. Regisseurin Cordula Däuper versucht mit einer Fülle von Inserts die Handlung als Dokutheater anzudeuten, weil Text und Musik es nicht tun.

Was Empathie wecken soll, und welche Kunstform könnte das besser als die Musik, hält solipsistisch auf Distanz. Und über die Frauen wird wieder viel zu wenig gesprochen: Sie bleiben blasse Schatten. Einzig Holly Flack als Barsängerin, die sich im üblichen Koloraturgezucke ergeht, hat wenigstens einen glamourösen Moment auf der Theke.

Dafür steht in Wien einmal mehr der Mann und Mörder im Musiktheater-Mittelpunkt. Er bekommt die kausale wie emotionale Zuwendung, die er eigentlich gar nicht verdient. Zumal ihn Seth Carico bis zum Finale am Strang mit all seinen famosen Stimmmöglichkeiten vom tiefen Bassbariton bis zum verstörenden Falsettgequicke – und natürlich auch dem genreüblichen Mörder-Kichern – viel eindrücklicher darzustellen vermag, als es die zu Schemen verurteilten Opfer dürfen.

Da ist es auch nicht sonderlich förderlich, dass im Vordergrund drei Frauen von heute in einer krampfigen Rahmenhandlung dem Schicksal ihrer missbrauchten Geschlechtsgenossinnen von einst nachspüren. Klangforum Wien und der Arnold Schoenberg Chor haben unter dem Dirigenten Finnegan Downie Dear ordentlich zu tun. Allein, es zahlt sich so gar nicht aus. Am Ende quatscht die irre Mutter alle tot.

„Cassandra“ in der Berliner Staatsoper

An der Staatsoper Unter den Linden hält „Cassandra“ Hof, mal wieder. Immerhin, die trojanische Sängerin hat es zu Opernauftritten bei Berlioz, Vittorio Gnecchi, Iannis Xenakis, zweimal in der Christa-Wolf-Fassung und zu Popsongs von Abba und Taylor Swift gebracht. Der als Opernkomponist spätberufene belgische Organist, Theater- wie Festivalleiter Bernard Foccroulle hat ihr 2023 in Brüssel als ewig ungehörte Zukunftsdeuterin eine Schwester im Geiste mitgegeben, die Klimaaktivistin Sandra. Mit der duettiert sie nach einer Stunde fünfzig Minuten gefällig, aber ohne viel Erkenntnis, an der Berliner Lindenoper, wohin die elegant erklärend an der Oberfläche surfende Ur-Inszenierung von Marie-Eve Signeyrole inzwischen weitergewandert ist, dem Weltuntergang entgegen.

Der Mythos langt nicht mehr, er muss aktuell-aktivistisch gespiegelt werden, ein Chor verleiht ihm Überzeitlichkeit. Moderne klingt hier nach Jazz von vorgestern, dazwischen surren als Intermezzi immer weniger werdende Bienenvölker; auch sie bedroht wie die Polarkappen. Es schmelzen die Eisberge, es krachen Bibliotheken zusammen, und die aufklappbaren Bienenwaben haben „Dalli-Dalli“-Retrocharme.

Librettist Matthew Jocelyn will Familiengeschichten und Herkunft aufzeigen. Die antike Seherin muss sich mit Priamos, Hecuba und einem kannibalischen Apollo herumschlagen, die heutige Wissenschaftskomikerin mit einer ebenfalls nicht netten Familie samt hochschwanger vernachlässigter Schwester und sich tapfer opferndem Geliebten. Was auch nicht schlauer macht.

Den zwischen Parlando und Ausbruch gekonnt, aber konventionell geführten beiden Frauenstimmen, dem hell irrlichtenden Sopran von Jessica Niles als Sandra wie dem erdigen Mezzo der Seherin Katarina Bradić hört man geneigt zu, auch der korrekten Dirigierverrichtung Anja Bihlmaiers. Aber auch hier: Es rührt nicht, lässt kühl in seiner korrekt faktencheckenden Durchleuchtung.

Es wiederholt nur einmal mehr das allzu oft so ähnlich schon aufbereitete, kühl postmoderne Opernarrangement zum Neuesten vom Tage ohne dem einen spezifischen Drama-Twist geben zu können. „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“, am Ende sind wir wieder bei Bach gelandet. Und haben gelernt: In der Arktis gibt es ein nach Johann Sebastian benanntes Schelfeis. Noch.

„Lash“ in der Deutschen Oper Berlin

„Ototoi popoi da“, schreit die Ost-Berliner Cassandra gern schmerzlich auf Altgriechisch. Im Berliner Westen geht es gleich von der Wimper zur Vorhaut, vom Sex zum Tod. An der Deutschen Oper zeigt die etwas überbewertete, in Berlin lebende Rebecca Saunders ein inhaltliches Nichts namens „Lash“. Zwischen Nahtoderfahrung und feministischem Selbstermächtigungspamphlet (mit einem sehr wenig Konkretes von sich gebenden Textgestammel von Ed Atkins) geht es um Liebe, Unglück, Eifersucht, Verlust, Sex, Sterben, Körper und Vergänglichkeit. Also etwas zwischen „Tristan und Isolde“ und dem kessen 1920er-Schlager „Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot“. Das aber mit höchster Musikklangambition.

Vier anonyme Frauen (Katja Kolm, Noa Frenkel, Anna Prohaska, Sarah Maria Sun) singen und sprechen hier als eine Einzige, sollen Klanghaut sein für die Überfrau. Zwei Klaviere, Synthesizer, E-Gitarre, neun Schlagwerker (davon vier Pauker auf der Bühne) sind hier raummusikalisch aufgeboten. Die Musik zirpt und schillert, röhrt und raunt, kurzatmig, aber langanhaltend für zwei Stunden. Und Enno Poppe, selbst Komponist, enthusiasmiert eindrücklich das volatile Orchester der Deutschen Oper.

Wieder soll man die Sinnfrage nicht stellen, alles ist offen, nichts soll. Das mit Zeitgenossenschaft vertraute Regiekollektiv Dead Centre schaut per überstrapazierten Live-Videos den Damen in die Gurgel, bietet eine Leiche, Körperteile und Möbelstücke, blutige Augäpfel, Genital-Andeutungen, Fingerspitzen, Lippen und Wimpern virtuell wie konkret auf. Es lässt Schleier runter- und fünf Spiegelwürfel rauffahren, schafft visuell Abwechslung, wo es musikalisch und textlich eher mäandert und variiert, also kaum von der Stelle kommt.

Das ist durchaus verführerisch anzusehen, macht auch zunächst Hörlaune, aber verliert und verirrt sich dann eben doch in seiner allzu selbstsicheren Glasperlenspielerei. Dafür gab es ein wohlgesetztes, gut gestütztes Buh in die Schlussstille hinein, dem das Publikum als ostentativer Donaueschingen-Betriebsausflug routiniert gehaltene Akklamation folgen ließ.

Okay, Rebecca Saunders will weg von Narration, will unerschlossenen Gefühlswelten aufstoßen, bedient sich dann aber doch bekannten Metaphern und Topoi, die Klangwahrnehmung und Theatererfahrung nicht wirklich neu erfinden. Es bleibt Zustandsbeschreibung als stehendes Jetzt. Mit ebenfalls versöhnlich kitschigem Finale, wenn sich zum Quartett vereint die Damen zuflüstern: „Come to bed and fucking die.“

So enden diese „Acts of Love – Love, Mute, Loss“, wo ein wirklicher Musiktheatermeister schon in ähnlicher Situation vor 160 Jahren ähnlich abstrakt, doch viel größer und gültiger dachte: „ertrinken, versinken---unbewusst----höchste Lust!“ Nach Richard Wagner wurde das Musiktheater eben nur selten wirklich radikal neuerfunden. Rebecca Saunders hat sich zumindest getraut.

Kommende Aufführungen: „Voice Killer“ am 23. Juni 2025. „Cassandra“ am 22. und 25. Juni sowie am 3. und 11. Juli 2025. „Lash“ am 27. Juni sowie am 1., 11. und 18. Juli 2025.

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