Nicht wenige doch eher verrohte deutsche Fußballfans hätten es billigend in Kauf genommen, wenn am späteren Abend des 6. Juli 2024 auf dem Rasen der Stuttgart Arena ein gewisser Marc Cucurella übertötet in seinem Blut gelegen hätte. Statt des Mannes mit der übermäßigen Haarpracht, dessen Handspiel im Viertelfinale der Fußball-EM den vermeintlich sicheren Titelgewinn Deutschlands verhinderte und inzwischen fast so legendär ist wie das Wembley-Tor 1966, statt Cucurella also liegt aber am Beginn des neuen Brandenburger „Polizeirufs“ eine Frau tot auf einem Lastwagen – wie eine Mumie des Erdölzeitalters in Folie verpackt.

Irgendwer hat – so geht „Spiel gegen den Ball“ los – auf den Kopf von Olivia Briegel, Inhaberin eines deutsch-polnischen Gerüstbauunternehmens, Präsident eines deutsch-polnischen Fußballclubs, eingedroschen. Derart lange, dass ihre Leiche derart ramponiert aussieht, dass selbst Kommissar Ross noch bleicher wird, als er es sowieso immer ist.

Eiskönigin hat man Olivia grenzüberschreitend genannt. Niemand hat sie gemocht. Nicht mal ihr 13-jähriger Sohn Marco. Überall, sagen sie, habe sie für Chaos gesorgt. Im Verein, im Betrieb. Keine Ahnung, soll sie gehabt haben, von allem. Joggen konnte sie gut.

Rudelgucken hatte stattgefunden in der Vereinskneipe. Deutsche und Polen waren vereint im Bangen um die deutsche Mannschaft. Olivia war nicht dabei. Und noch bevor Cucurella seinen Arm in Jamal Musialas Schuss hielt (okay: Er hat ihn nicht rechtzeitig weggezogen, was fußballstrafrechtlich natürlich egal ist), war sie tot.

Es ist ein irgendwie mürbes Kaff, in das Ross (André Kaczmarczyk) und seine Kollegin Luschke (Gisa Flake) gerufen werden. So gleißend die Straßen und die Fußballfelder, so halbdunkel die Räume. Ross und Luschke, die wahrscheinlich feinfühligsten Ermittler des Sonntagabendkrimis, die sanften Seelenstreichler, die noch Sympathie mit dem Teufel hätten, würden sie ihm begegnen, akklimatisieren sich ganz allmählich.

Ein letztes Reservat

Sie treibt kein großstädtischer Geschwindigkeitsrausch. Sie wissen, dass sie sich auf einem geschichtlichen, politischen Minenfeld befinden. Das macht sie vorsichtig. Das fordert ihr Mitgefühl heraus. Das macht den Brandenburger „Polizeiruf“ zum möglicherweise letzten Reservat der menschlich-freundlichen Ermittlungsarbeit.

Ross und Luschke reiten nicht ein, dazu sind sie viel zu vorsichtig und freundlich. Sie kommen an, sind da. Und schmirgeln eher, als dass sie sie abklopfen, all die mörderischen Verkrustungen ab, die wie ein Firnis alle und alles überziehen.

Und immer wenn es zu fad zu werden droht oder zu schwierig, frotzeln sie sich an. Der massive Fußballfan Luschke und der feingliedrig auf den Grenzen der Geschlechter tanzende Opernfan Ross mit seinen aberwitzig schicken, schrägen Klamotten. Man schließt die beiden immer wieder aufs Neue ins Herz, egal wo die Redaktion des RBB sie hinschickt, in welche Milieus, in welche sozialen Habitate und Gegenden. Und die Leute, zwischen denen sie sich dann zurechtfinden müssen, gleich mit.

Das ist auch in diesem Fall ziemlich nötig. Das Kaff im deutsch-polnischen Grenzgebiet macht einen trotz der Hitze des Sommers, die über allem liegt, regelrecht klamm. Wer länger da ist, wird Großkunde im Getränkemarkt. Wer jung ist, will Fußballer werden, um möglichst rasch wegzukommen von da.

Marco und Robert und Kevin träumen davon, die neuen Podolskis zu werden. Der ist ja auch deutscher Pole oder polnischer Deutscher. Und er hätte auch zu einem großen Jugendturnier in den Ort kommen sollen und mit ihm die Scouts. Und die Jungs hätten – so war ihr Traum – nur noch einnetzen müssen in die Tore zur Welt.

Olivia hat das Turnier aber abgeblasen. Und Robert als schwul geoutet, hat sie auch noch ohne Not. Was in der grundsätzlich homophoben Fußballwelt bedeutet, dass er seine Pläne von einer Fußballer-Laufbahn vergessen kann.

Die Jungs hätten also durchaus ein Motiv fürs Erschlagen der Eiskönigin. Sie sind aber nicht die Einzigen. Die Liste derjenigen, die offensichtlich genug Gelegenheit dazu und genug Hass auf sie hatten, ist länger als die von „Mord im Orientexpress“.

Ungefähr so altmodisch ist auch die Ermittlungsgeschichte, die im Kern dieses als Sonntagabendkrimis getarnten Seismogramms steckt. Der Plot beherrscht das Umschaltspiel zwischen realistischem Polizeifilm und authentischem Menschendrama zwar perfekt, irgendwelche Flügelläufe, Hochgeschwindigkeitsspielereien sollte aber niemand erwarten. „Spiel gegen den Ball“ ist ungefähr so schnell wie das WM-Endspiel von 1974 (was sehr sehr langsam war), aber mindestens genauso elegant.

Grenzen und Begrenztheiten

Das Aufregende am letzten Sonntagkrimi der Saison ist gerade das – das Unaufgeregte, die Sanftheit. Die Art, wie das Buch von Michael Fetter Nathansky, Daniel Bickermann und Christian Werner, der auch Regie führte, sich Zeit lässt dafür, all den Bewohnern dieses grenzüberschreitenden, sich seiner Grenzen und Begrenztheiten kaum bewussten Soziotops hinterher zu forschen. Cucurella, der, was er mit ein wenig Demut schon hätte verhindern können, immer noch ausgepfiffen wird, sobald ein deutscher Fan seiner ansichtig wird, kommt nicht vor. „Spiel gegen den Ball“ braucht ihn nicht.

Das muss jetzt reichen an frischen Sonntagabendkrimileichen für die kommenden gut drei Monate. Wir wünschen Ihnen (und natürlich Marc Cucurella) einen unblutigen, friedvollen, großen Sommer.

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