Maria ist die ideale Projektionsfläche. Ja, genau die Maria, der von einem Engel verkündet wird, dass der Heilige Geist über sie kommen und sie schwanger werden würde. Und die daraufhin laut Lukas 1:34 fragt: «Wie soll das geschehen, da ich doch von keinem Mann weiss?» Einen Verlobten hat sie zwar, aber zum Zeitpunkt der Verkündigung hatte sie noch keinen Sex, ist also Jungfrau.
Vorstellung der jungfräulichen Braut
Diese Diskrepanz zwischen jungfräulicher Empfängnis und der Darstellung Marias als Mutter und Ehefrau versuche man in der Römisch-katholischen Kirche mit ihrer Heiligkeit, ihrer aussergewöhnlichen Stellung unter den Menschen zu erklären, sagt Religionswissenschaftlerin Natalie Fritz.

Das tue ihrer Funktion als Identifikationsfigur keinen Abbruch, sondern erweitere sie gar. «Bei einigen Nonnenorden steht Maria für die Vorstellung der jungfräulichen Braut Christi. Eine Nonne geht entsprechend den ‹Ehe›-Bund mit Jesus ein, entsagt deshalb einer sexuellen Beziehung mit einem anderen Menschen und lebt in diesem Sinne monogam.»
Vorbild für Christ-Feministinnen
Die Reformbewegung «Maria 2.0», die sich für Veränderungen in der römisch-katholischen Kirche einsetzt, greift genau diesen Gedanken auf. Die Initiative, die 2019 von Katholikinnen in Münster ins Leben gerufen wurde, sagt: Die «weibliche Kraft» sei in der Kirche lange unterdrückt worden – aus Angst, dass Frauen dadurch zu viel Einfluss bekommen könnten.
Deshalb fordert die Bewegung, dass Maria nicht nur als reine jungfräuliche Figur gesehen wird, sondern auch als Frau mit einem Körper und Sexualität. Die Gegenbewegung dazu, «Maria 1.0», steht für das traditionelle Bild der stillen, dienenden Maria steht. «Maria 2.0» symbolisiert indes einen Neuanfang: Frauen, die gehört werden wollen und aktiv Veränderungen fordern.
«Sie setzen sich für eine ‹Re-Sexualisierung› Marias ein und damit auch für ein Überdenken des Pflichtzölibats sowie den Zugang zum Priesteramt», sagt Religionswissenschaftlerin Natalie Fritz. Das soll helfen, alte Vorstellungen zu hinterfragen – zum Beispiel das Zölibat, also das Verbot für Priester, zu heiraten oder sexuell aktiv zu sein, und die Tatsache, dass Frauen keine Priesterinnen werden dürfen.
Fruchtbarkeitssymbol
Die wahrscheinlich früheste Darstellung Marias befindet sich in den Katakomben von Priscilla in Rom. Es zeigt eine Frau mit ihrem Kind auf dem Schoss, vor ihr ein Mann, der mit einer Hand auf einen Stern deutet und in der anderen eine Schriftrolle als Symbol einer Prophezeiung hält. «Für die damaligen Betrachtenden muss klar gewesen sein: Das ist die von Jesaja angekündigte Geburt des Messias», erklärt die französische Theologin Anne Soupa im Dokumentarfilm «Alles über Maria».

Die Darstellung Marias stammt aus dem 3. Jahrhundert, also aus einer Zeit des Übergangs, als das Christentum noch stark vom Judentum geprägt war und sich erst anschickte, eine eigenständige Ikonografie zu entwickeln.
Soupa spricht von einer Kontinuität weiblicher Fruchtbarkeit: «Da ist zunächst Eva, die Mutter aller Lebendigen, dann Sara, die Erzmutter Israels, und schliesslich Maria, die Mutter Christi.»
Der Fokus auf die Fruchtbarkeit sei omnipräsent im Alten Testament, so Soupa weiter. Denn das Volk Israel sei nicht sehr gross gewesen, und nur eine hohe Geburtenrate garantierte dessen Überleben.
Auch in der Weihnachtsgeschichte steuert alles auf die Geburt des Religionsstifters zu, wie es Generationen von Schulkindern in christlich geprägten Ländern aus dem Krippenspiel erfahren haben. Nebst den meist stummen Schafen und den Blockflöte spielenden Hirten musste auch jemand Maria mimen. Viel Text hatte diese Person jeweils nicht zu lernen. Wichtiger war, dass das unters Kleid gedrückte Kissen glaubwürdig eine Schwangerschaft symbolisierte.
«Biografie» mit Leerstellen
Die Verehrung Marias sei Ausdruck des menschlichen Bedürfnisses nach einer mütterlichen, schützenden Instanz, erklärt Pater Ludwig Ziegerer vom Kloster Mariastein (SO). «Maria verbindet Himmel und Erde, Göttliches und Menschliches. Auch wenn die Formen der Verehrung unterschiedlich sind, liegt ihnen allen ein uraltes, überkonfessionelles Bedürfnis zugrunde: Geborgen zu sein in den Armen einer liebenden Mutter.»

Mariastein ist ein Ort, an dem dieses Bedürfnis sehr deutlich zum Tragen kommt. Hierher pilgern Menschen unterschiedlicher Konfessionen, um Maria um Hilfe zu bitten. So zum Beispiel auch Tamilinnen und Tamilen zweiter und dritter Generation, die die Marienverehrung ihrer Eltern oder Grosseltern aus Sri Lanka übernommen hätten.

«Dies geschieht nicht aus einer christlich-dogmatischen Sichtweise heraus, sondern aus tiefem Respekt vor der heilenden, beschützenden und mütterlichen Kraft, die sie symbolisiert.»
Maria ist für viele eine Identifikationsfigur, weil es in ihrer ‹Biografie› so viele Leerstellen gibt, die man mit Geschichten füllen kann.
Maria ist also, so könnte man sagen, ein fester Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. Nicht nur in christlich geprägten Gesellschaften. «Und wahrscheinlich gerade deshalb für viele Identifikationsfigur, weil es in ihrer ‹Biografie› so viele Leerstellen gibt, die man mit Geschichten füllen kann», sagt Pater Ludwig.
Maria inszeniert als Tabubrecherin
Diese Tatsache machten sich seit jeher auch Kunstschaffende zu Nutze. Die 2024 verstorbene Elisabeth Ohlson Wallin benutzte in ihren Fotografien oft Werke älterer Künstler als Referenz, um die angebliche LGBTIQ-Feindlichkeit der Lutherischen Kirche anzuprangern. Oder die finnische Fotografin Elina Brotherus, deren Fotozyklus «Verkündigung» eine sehr persönliche Geschichte über unerfüllten Kinderwunsch und die emotionale Belastung durch fünf Jahre erfolglose Fruchtbarkeitsbehandlungen thematisiert. Dabei übernimmt sie die Bildsprache von Fra Angelico, einem Maler der italienischen Frührenaissance aus dem 15. Jahrhundert.

2017 gingen die Verkündigung der Schwangerschaft und später das Foto der Zwillinge der US-amerikanischen Sängerin Beyoncé, die diese selbstbewusst und leicht bekleidet mit der interessierten virtuellen Welt teilte, viral: «Beyoncé spielt mit Gender-Stereotypen und betont die Paradoxie der ‹unbefleckten Empfängnis›. Ihre Körperlichkeit ist unmittelbar und hinterfragt sichtbar das Konzept der Keuschheit», analysiert Natalie Fritz auf kath.ch.
«Maria macht halt alles mit, von der Kriegerin bis zur demütigen Jungfrau», sagt die belgische Historikerin Annick Delfosse. Im Grund sei sie ein «leeres Gefäss», das jede und jeder auf seine Weise füllen kann. Eine ideale Projektionsfläche eben.
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