In New York wird es Sommer, die Luft ist feucht. An der Upper East Side polieren „Doormen“ die Türgriffe an den Portalen erlesener Gebäude, Lobbys schimmern halbdunkel auf den hellen Asphalt heraus. So liegt die Galerie Lévy Gorvy Dayan. An den Fenstern des fünfstöckigen Townhouses sind auf türkisfarbigen Plakaten Zitate der Künstlerinnen angebracht, die in der Ausstellung „The Human Situation“ zu sehen sind.
Verwehende Sätze wie „All I ask is that people look“ oder „The human situations adds a certain poingnancy to portraits“. Zu sehen sind 45 Werke von Sylvia Sleigh, Marcia Marcus und Alice Neel, alle drei Malerinnen, die von den 1960er- bis in die frühen 1980er-Jahre in Manhattan lebten, oft dieselben Modelle für ihre Gemälde sitzen ließen, und befreundet waren.
Diese enge Zusammenarbeit steht im Mittelpunkt der Ausstellung. Es war eine Zeit, wie sie die Kunstkritikerin Lucy Lippard in dem 1973 erschienenen Essay „Women Chose Women“ beschrieb: Die Bürgerrechtsbewegung war in vollem Gang, die zweite Welle des Feminismus hatte Fahrt aufgenommen – doch junge Künstlerinnen hatten noch kaum je Gelegenheit gehabt, in einer patriarchal geprägten Kunstwelt, weibliche Vorbilder zu finden. Bis zu einem gewissen Grad sei das immer noch so, daher sind der Ausstellung „The Human Situation“ zum Beweis für die anhaltende Resonanz dieses Gefühls einzelne Gemälde von sechs zeitgenössischen Künstlerinnen hinzugefügt: Jenna Gribbon, Karolina Jabłońska, Chantal Joffe, Nikki Maloof, Wangari Mathenge und Claire Tabouret.
Die museale Schau ist in fünf thematische Kapitel geordnet, es geht um Schwesternschaft, das Selbst, Modelle im Atelier, den Akt, die Familie. Schwesterlich ist Sylvia Sleighs „A.I.R Group Portrait“ (1977-78) zu verstehen, eine Leihgabe des Whitney Museum of American Art. Die in Brooklyn gelegene A.I.R. Gallery war die erste weibliche Kooperative, die im Jahre 1972 gegründet wurde, um einen Ausstellungsraum für vom künstlerischen Mainstream ausgeschlossene Frauen zu schaffen.
Ruhige Pose, ruhiger Blick
Sleighs Gemälde zeigt diese Frauen, darunter die heute sehr bekannten Künstlerinnen Judy Chicago und Howardena Pindell, wie sie froh und hell in Richtung des Betrachters schauen. Unter den Aktdarstellungen fällt Alice Neels „Pregnant Nude“ (1967) auf – und Neel malte mehr als nur eine unbekleidete Schwangere. Diese liegt nachdenklich da, ist weder reines Objekt des Betrachters noch ganz eigenständiges Subjekt. Dasselbe gilt für Gemälde von Marcia Marcus, meist sind es Darstellungen von Paaren, die in ruhiger Pose und mit ruhigem Blick in Richtung Betrachter schauen.
Seit MeToo und der daran anschließenden Debatte um Inklusion und Diversität wurden Künstlerinnen aus allen Schubladen gekramt, wiederentdeckt, hochgelobt, gefeiert. Das Schema der Ausstellungen war oft ähnlich: Anhand der jeweiligen Auswahl der Werke wurde laut und schrill der Feminismus gepriesen. Frauen, die eigene oder fremde Brüste malten oder Dildos bastelten, wurden vor das breite Publikum gezerrt. Man stellte Erotik und grelle Nacktheit aus, als sei das ein Wert an sich, um in den Kanon der (feministischen) Kunst aufgenommen zu werden.
Was ist Frauenkunst, was feministische Kunstkritik? Das fragte Lucy Lippard schon in den 1970er-Jahren und gab zu, keine richtige Antwort zu haben. Vielleicht – so suggeriert es nun „The Human Situation“ – braucht es keine explizit „weibliche“ Kunst, die sich dem „männlichen Blick“ widersetzt. Vielleicht reicht es schon, wenn die Kunst menschlich ist.
Der faszinierenden Ausstellung bei Lévy Gorvy Dayan jedenfalls fehlt das feministische Getöse. Ganz so als würde man sich in der Galerie endlich wieder auf das Wesentliche besinnen können: Frauen, Künstlerinnen, werden hier ohne Kampfansage gewürdigt, ohne sie auf Objekt, Körper und Erotik – oder deren laute Subversion –, zu reduzieren. Die Bilder von Neel, Marcus und Sleigh zeigen, wie es geht: Menschen begegnen einander, sitzen beieinander, schauen sich an. Was ihnen durch den Kopf rauscht, wissen nur die Malerinnen und ihre Modelle allein. Aber vielleicht erahnt es der Betrachter, in kleinsten Nuancen ihrer Posen und ihrer Blicke.
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