Seitdem das politische Theater die Grenzverwischung zwischen Spiel und Wirklichkeit als hauptsächliches Betätigungsfeld entdeckt hat, muss man sich als Zuschauer neu orientieren. Wer im Theater eine Geschichte erzählt, tut das längst nicht mehr nur als ästhetische Behauptung, sondern als Selbstbehauptung. Meist ist es dann auch die eigene Geschichte, die erzählt wird, und meist geht es um Ausgrenzung, Ungleichheit oder Gewalt.
Konnte man sich in den überlieferten Geschichten nicht „wiederfinden“, wurde nach dem Vorbild der „Politik der ersten Person“ eine Ästhetik der ersten Person proklamiert. Jemanden eine Bühne zu geben, wird heute vor allem als politische Geste verstanden, mit der man zur Pluralisierung des Diskurses und zur politischen Selbstermächtigung beiträgt. Solche Authentizitätsspiele sind als Reaktion auf die vieldiskutierte Krise der Repräsentation entstanden und enden heute nicht selten im biografischen Betroffenheitstheater oder identitären Gemeinschaftskitsch.
Als Zuschauer wird man immer häufiger zu der Entscheidung gedrängt, ob man einen Theaterabend als politische Manifestation oder als ästhetischen Versuch betrachtet. Mit weitreichenden Konsequenzen: Wo das Bühnengeschehen sichtlich auf den aktivistischen Outcome oder die Diversitätskriterien eines Förderkatalogs schielt, fehlt der doppelte Boden, der unabdingbar für das freie Spiel mit Bedeutungen ist. Eindeutigkeit herrscht vor, wo klare Botschaften in die politische Sphäre der Gesellschaft kommuniziert werden sollen – eine diskursive Unterwerfung unter das Realitätsprinzip, das dort herrscht.
Das Problem ist, dass der Vereindeutigungszwang in der Kunst ansteckend ist und sich selbst dort ausbreitet, wo man ihm nicht huldigt. Als Zuschauer beginnt man nämlich, jeden Abend mit dem aktivistischen Blick zu sehen, der nicht nach einem inneren Zusammenhang des Gesehenen fragt, sondern nur: Wer spricht? Was ist die Message? Und: Stimme ich zu? Daumen hoch oder Daumen runter?
Der aktivistische Blick ist inzwischen durch eine Spielart der zeitgenössischen Ästhetik so sehr eingeübt worden, dass er immer zu passen scheint. Nimmt man zum Beispiel „The Brotherhood“, den neuesten Abend der brasilianischen Performerin Carolina Bianchi: Als Opfer einer Vergewaltigung steht Bianchi auf der Bühne und klagt das Theater an, das seit Hunderten Jahren von Männern beherrscht wird und mit Missbrauch einhergeht. Von der Antike über Shakespeare und Tschechow bis Hermann Nitsch, Roman Polanski, Rammstein und Jan Fabre, irgendwie immer das Gleiche. Eine Kunstgeschichte des Schreckens, der am Ende mit dem symbolischen Abfackeln des Theaters ein Ende gesetzt werden soll.
Das Schema der aktivistischen Erwartung wird erfüllt: Hier spricht das authentische Opfer, übt Institutionenkritik und macht die strukturelle Gewalt verantwortlich, man kann also beruhigt nach Hause gehen. Oder nicht? Verpasst man das Wichtigste, wenn man nur auf das bekannte Muster reagiert?
Man kann „The Brotherhood“ aber auch ganz anders sehen, nämlich als innere Zersetzung des Betroffenheitstheaters. „Wir sind alle bei einer Theaterweltmeisterschaft der Traumata und Verletzungen“, heißt es bei Bianchi, die sich durchaus Hoffnungen auf den Titel hätte machen dürfen. In „Die Braut und Goodnight Cinderella“, dem gefeierten ersten Teil ihrer „Cadela Força“-Trilogie, setzte sie sich selbst mit K.-o.-Tropfen außer Gefecht – wie es ihr bei ihrer Vergewaltigung widerfahren ist. Eine extreme Form der theatralen Wiederaufführung einer extremen Gewalterfahrung, die auch Bianchis außergewöhnlichen Formwillen verdeutlicht.
So wirft Bianchi auch in „The Brotherhood“, dem zweiten Teil der Trilogie, die große Umcoderierungsmaschine des Theaters an: Aus dem Angsttraum einer massenvergewaltigenden „Bukkake Gang“ wird eine Spermaparty als Traumatherapie, Bianchi liegt von nackten Männern umkreist auf einer Matratze. Eine Leuchtschrift verkündet: „Dirty Pathos“. Bianchi weist die klassische Opferrolle zurück, die sich ihrer inneren Reinheit durch betonten Verzicht und Enthaltsamkeit versichert.
Bianchis bildgewaltiges und verstörendes Plädoyer für eine „dreckige Kunst“ stellt auch den MeToo-Diskurs auf den Kopf, weil es weder die Reinheit der Kunst noch die Reinheit des Opfers beschwört und stattdessen den Blick auf das Problematische an der Kunst mit ihren dramatischen Begehrenskonflikten richtet. „The Brotherhood“ sei auch kein Denunziations- oder MeToo-Stück, heißt es an einer Stelle. Tatsächlich ist es ein exzessiver und schonungsloser Theateressay, wie man es auch von Angélica Liddell oder Marina Otero kennt. Und es ist, folgt man Bianchi, kein Zufall, dass diese Form der theatralen Autofiktion im Theater von Frauen gemacht wird.
Warum? Weil Männer zwar betroffen reden, Frauen aber betroffen sind. Für Bianchi heißt das nicht, dass Frauen nur über die Erfahrung der Verletzlichkeit ihres Körpers und ihrer Würde Theater machen sollen, sie können nur nicht ohne diese Erfahrung Theater machen. „Ich will nur Poesie“, sagt Bianchi, während sie vor einem Sarah-Kane-Grabstein kniet. Und plötzlich ist man meilenweit entfernt vom aktivistischen Blick, sondern sieht stattdessen eine unreine Poesie, in der das Aktivistische zwar auch vorkommt, aber nicht das letzte Wort hat.
Oder wird hier alles relativiert?
Ein weiteres Beispiel für die Fallstricke des aktivistischen Blicks ist „Die Perser. Triumph der Empathie“ von Chokri Ben Chikha und Action Zoo Humain, wie „The Brotherhood“ bei den aktuellen Wiener Festwochen aufgeführt. Ein Abend, der einen mehrfach zusammenzucken lässt. Das liegt einerseits an den schockierenden Bildern, sowohl vom Massaker des 7. Oktober 2023 in Israel, als auch von der Zerstörung in Gaza. Es liegt andererseits an den Äußerungen des internationalen Ensembles auf der Bühne, die sich in Whataboutismus zu übertreffen scheinen wollen. Israel und die Juden? But what about die Palästinenser? Und die Ukrainer? Und erst recht die Afrikaner? Welches Leid schlägt hier welches?
Oder wird alles relativiert, gar mit der Absicht, dem jüdischen Staat insgeheim den Untergang zu wünschen und die revisionistische Forderung vom „Recht auf Rückkehr“ der Palästinenser zu verwirklichen? Nimmt man alles für bare Münze, was auf der Bühne gesagt wird (was durch den Anschein, die Schauspieler würden nur in ihrer „natürlichen Rolle“ auftreten, allerdings naheliegend sein könnte), wirkt „Die Perser“ jedenfalls nicht wie ein diskriminierungssensibles Vorzeigeprojekt.
Doch bevor man in den aktivistischen Modus übereifriger Affirmation oder empörter Schnappatmung verfällt, muss man sich wiederum fragen, ob man nicht etwas übersehen hat. Das Stück selbst ist nämlich, der Riefenstahl’sche Untertitel lässt es vermuten, eine bitterböse Farce, keine Best-Practice-Lehrstunde. Verlegt wird das Ganze ins Jahr 2030, Israel und die palästinensischen Gebiete sind einem „Human Unified State“ gewichen, umgeben von atomar verseuchten Gebieten. Netanjahu hat politisches Asyl in Deutschland gefunden, Trump und Putin sind noch immer an der Macht.
Das klingt deutlich nach Dystopie, nicht nach einer Wunschvorstellung. Gezeigt wird weiterhin eine Abschlussklasse einer Tanzschule mit ihren Arbeiten. Dass der antike Klassiker „Die Perser“ einmal mit Netanjahu und einmal mit einem Hamas-Anführer als Xerxes gezeigt wird, ist wiederum die Karikatur eines politisch engagierten Theaters, das Aischylos und das Theater überhaupt als Schule der Empathie preist. Nur was wäre, wenn es mit der Empathie im Theater gar nicht so weit her ist wie gedacht?
Man kann „Die Perser“ nämlich als Versuch sehen, die Sackgasse des vorherrschenden Empathiediskurses aufzuzeigen. Einfühlen kann man sich nämlich immer dann am besten, wenn man sich jemandem zugehörig fühlt. Und da die Studenten im Sinne der Identitätspolitik stets auf ihre biografischen Marker reduziert werden – „Du als Muslim“, „Du als Palästinenserin“, „Du als Israeli“ … – ahnt man schon, dass die Forderung nach Empathie in einer solchen Gemengelage eher zur weiteren Tribalisierung als zur versöhnten Menschheit beitragen wird.
Wer nie als Mensch adressiert, sondern streng nach Diversitätskatalog in seinen Gefühlsregungen schon immer auf die Gruppenzugehörigkeit zurechtgestutzt wird, landet notwendig in einer affektiven Konkurrenz. Das ist schrecklich und teils unerträglich zu sehen, aber ist es das in Wirklichkeit nicht auch? In „Die Perser“ kann man sehen, wie die Bilder und Debatten die Einzelnen erst verstricken und dann fesseln. Und wie diese Gruppenpolarisierung Institutionen wie Schauspielschulen auf die Probe stellt, wogegen auch diverse Klauseln – als Versuch einer verordneten Empathie von oben – nicht mehr helfen. Ein Dilemma.
„Liebe und Empathie werden das Töten nicht beenden“, heißt es am Ende von „Die Perser“, wie als Gegenthese zur „Republik der Liebe“, dem Motto der Wiener Festwochen. Auf Stücke wie „The Brotherhood“ oder „Die Perser“ nicht mit dem aktivistischen Blick zu schauen, wird umso komplizierter, je mehr Institutionen wie die Festwochen mit dem Aktivismus als Leitwährung der Aufmerksamkeitsökonomie kokettieren. Wo unaufhörlich als „Dauermobilisierung“ („Taz“) der unmittelbare Übergang von Kunst in Politik verkündet wird, wird es eben immer schwieriger, sich den ästhetischen Blick zu bewahren.
Oder ist genau das heute die Aufgabe des politischen Theaters? Sich in einem dauererregten, reflexionszerschreddernden Setting zu zwingen, dem aktivistischen Blick zu widerstehen? Den eigenen Identifikationsgelüsten und Empörungsreflexen nicht nachzugeben? Sich stets erinnern, dass man eine Wahl hat, wie man auf Kunst und Welt schaut – mit der Holzhammermethode des „Sofortismus“ (Rainald Goetz) oder dem feineren Besteck einer politisch aufgeklärten Verspieltheit?
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