Achteinhalb Jahrzehnte lang haben viele Forschergenerationen daran gearbeitet, nun ist die Schiller-Nationalausgabe (SNA) endlich fertig. In 43 Bänden liefert sie nicht nur die Werke des Dichters (1759-1805) in allen Fassungen, sondern auch Briefe und Lebenszeugnisse. Die Ausgabe war – neben dem Goethe-Wörterbuch und dem Grimm’schen Wörterbuch – zur Zeit der deutschen Teilung eines der wenigen germanistischen Projekte, bei denen Ost und West zusammenarbeiteten. Christoph Hain, Direktor der Goethe-und-Schiller-Archivs in Weimar, erklärt die komplizierte Geschichte der SNA.
WELT: Warum hat das eigentlich so lange gedauert, 85 Jahre?
Christoph Hain: Das ist für so ein Großprojekt nicht außergewöhnlich. Das Editionsgeschäft ist Kärrnerarbeit. Sie gehen in die Quellenrecherche. Sie müssen überhaupt erst einmal ihren Gegenstand sozusagen ausloten. Und es war nicht so, dass alles, was in diese Ausgabe gelangt ist, in einem einzelnen Archiv liegt. Das sind verschiedene Orte – und nicht nur Weimar und Marbach.
WELT: Was ist denn anders gewesen als bei der Weimarer Sophien-Ausgabe von Goethes Werken, die 1885 begann und 1919 vollendet wurde?
Hain: 34 Jahre sind natürlich ein enormes Tempo, das man bei Goethe vorgelegt hat. Aber da waren auch die Umstände anders. Den gesamten handschriftlichen Nachlass Goethes hat Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar-Eisenach en bloc von Goethes Enkel Walther geerbt. Man hatte alles hier vor Ort, man konnte sich sofort vertiefen.
WELT: Wie war denn die Überlieferungslage bei Schiller?
Hain: Ganz anders. Er starb schon 1805, und dann ging ja sofort ein regelrechter Auflösungsprozess des Nachlasses los. Die Handschriften wurden vereinzelt. Man hat kleine Schnipsel als Andenken verteilt. Schillers Briefe und Manuskripte wurden verschenkt, zerschnitten, gefälscht und zu begehrten Objekten des Autografenmarktes. Sie haben den Nachlass nicht an einem Platz, wie wir das eben im Großen und Ganzen bei Goethes Nachlass hatten. Außerdem hat Schiller ganz anders gearbeitet als Goethe. War ein Werk gedruckt, hat er alle Vorarbeiten vernichtet.
WELT: Wann hat man angefangen, das systematisch zusammenzutragen?
Hain: Der Nachlass kam 1889 in Teilen nach Weimar. Seitdem heißen wir auch Goethe- und Schiller-Archiv. Zuvor trug es nur den Namen Goethe-Archiv. Aber wir bekamen nicht das Gesamtkorpus der nachgelassenen Schriften, sondern eben nur das, was die Familie Gleichen-Rußwurm besaß – aus der Linie von Emilie, der jüngsten Schiller-Tochter. Der Nachlass war nie so geschlossen, wie wir es bei Goethe hatten. Dessen Enkel Walther und Wolfgang haben sehr akribisch darauf geachtet, dass die Hinterlassenschaft ihres Großvaters nicht zerfleddert wird.
WELT: Kann es auch dadurch zu Verzögerungen gekommen sein, weil die Bearbeiter in Weimar und Marbach während der jahrzehntelangen deutschen Teilung gar kein Interesse daran hatten, schnell fertig zu werden? Denn die Nationalausgabe war ja eines der letzten wissenschaftlichen Bindeglieder zwischen Ost und West.
Hain: Ich glaube, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, egal in welcher politischen Konstellation oder in welchem Land sie aufwachsen, immer schon den Anspruch hatten, auch fertig zu werden. Gleichwohl ist es natürlich ein Phänomen: Man findet immer noch etwas – und scheut sich, irgendwann auch einmal einen Schlusspunkt zu setzen. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass man das absichtlich hinausgezögert hat.
Sicher ist, dass man ursprünglich nicht vorhatte, das 50-Jahre-Jubiläum im Jahre 1990 groß zu begehen. Zum einen, weil es immer schwierig ist, Langzeitprojekte, die noch nicht abgeschlossen sind, in der Öffentlichkeit zu feiern. Und man wusste, in der DDR ist man immer unter Beobachtung. Wer von den Bearbeitern reisen durfte, das wurde zum Beispiel sehr reglementiert. Es war kein Freifahrtschein, wenn Sie bei der Schiller-Nationalausgabe gearbeitet haben.
WELT: Schillers Werke liegen ja in vielen Ausgaben vor. Wer braucht die Nationalausgabe?
Hain: Man muss es so ehrlich sagen: Sie richtet sich schon an ein Fachpublikum. Wir können nicht davon ausgehen, dass die sich jemand kauft und ins Wohnzimmer stellt. Oder es gibt allenfalls eine Handvoll Menschen, die das tun. Es ist eine Ausgabe für die Forschung, für die Wissenschaft und für Studierende. Die Zukunft sehen wir dann natürlich im Digitalen. Man muss einer neuen Generation, die Texte mit den Mitteln der digitalen Geisteswissenschaften rezipiert, Schiller zugänglich machen.
WELT: Was findet denn der Forscher und der normale Schiller-Fan, das er anderswo nicht findet?
Hain: Es gibt beispielsweise den Band 41, die Lebenszeugnisse und Dokumente Schillers. Da ist sein Taufeintrag drin aber auch Verlagsverhandlungen und die Nachricht von seinem Tod sind enthalten. Ganz persönliche Dokumente wie sein Diätplan, vom Arzt verschrieben, was er konsumieren soll. Nicht nur Germanisten, sondern auch Historiker, Mediziner oder Philosophen, die sich in irgendeiner Weise in die Historie vertiefen, können mit dieser Ausgabe arbeiten.
WELT: Warum gibt es so eine Ausgabe für Schiller und für andere Dichter nicht? Was macht Schiller so bedeutend, dass er so einen staatlich geförderten Aufwand verdient?
Hain: Weil er schon im 19. Jahrhundert so eine ungeheure Wirkung entfaltet hat. Er wurde schon zu Lebzeiten von vielen Bevölkerungsgruppen rezipiert und gelesen. Bekannt war er spätestens seit den „Räubern“. Über 20 Jahre nach Schillers frühem Tod 1805 gibt sein Vertrauter Goethe seinen Briefwechsel mit dem Freund heraus. Dieser briefliche Austausch, der von einer außergewöhnlich produktiven und freundschaftlich inspirierten Zusammenarbeit zeugt, ist übrigens der einzige Briefwechsel mit einem Freund, den Goethe selbst zu Lebzeiten veröffentlichte – das sagt viel über Schillers Stellenwert
WELT: Die Verehrung hat aber nicht nur rein literarische und persönliche Gründe.
Hain: Sie hat noch eine ganz andere Ebene. Wir sind ja bei Schillers Tod in der Phase, in der das Alte Reich untergeht. Und der Weg bis 1871 ist noch relativ lang. Diese Nation, die sich da in irgendeiner Weise formen muss, findet in seinen Werken beispielsweise die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Staat. Er wird zu einer Projektionsfigur, die für viele Strömungen funktioniert. Für die Demokraten, aber auch einfach als Nationaldichter und -denker. Das hat dazu geführt, dass er so in den Fokus gerückt ist.
Beim Goethe-Jubiläum 1849 war es noch schwierig mit Feierlichkeiten und Gedenken. Es herrschte Revolution. Aber Schillers fünfzigster Todestag 1859 war dann genau die richtige Zeit, um so ein Ideal noch stärker ins Bewusstsein zu führen. Er war ja ehrenhalber Bürger der Ersten Französischen Republik, also, wenn man so will, ein Geist der neuen Zeit.
WELT: Der Nationaldichter bekam dann auch eine „Nationalausgabe“.
Hain: Das ist die Frage, die wir uns jetzt gerade zu diesem Abschluss noch einmal gestellt haben: Wie verhalten wir uns eigentlich zu dem Begriff „Schiller-Nationalausgabe“? Bei Goethe heißt es ja nicht „Goethe-Nationalausgabe“. Das zeigt einfach, dass diese Edition immer einzubinden ist in einem historischen Kontext. Ich kenne keine Diskussion, dass man jemals von diesem Namen Abstand nehmen wollte. Auch nicht in den Jahrzehnten der deutschen Teilung. Vielleicht hat man sich bewusst entschieden zu sagen: „Ja, es ist eine Nationalausgabe“; und dann eben eine deutsch-deutsche.
WELT: Die Arbeit an der Ausgabe begann 1940, mitten in der NS-Zeit. 1943 erscheint der erste Band. Was speziell gefiel den Nazis ausgerechnet an einem Dichter, für den die Idee der Freiheit so zentral war? Was haben die in ihm gesehen?
Hain: Julius Petersen, der erste Herausgeber, war 1940 der Ideengeber für diese Ausgabe. Und ganz klar stand im Blickwinkel die Indienstnahme Schillers für die Ideologie der Nationalsozialisten und für das Reich. Wenige Jahre zuvor, 1934, hatte auch die damalige Thüringische Landesuniversität – also die Universität in Jena, an der Schiller seit 1789 gelehrt hatte, – den Namen erhalten, den sie noch heute trägt: Friedrich-Schiller-Universität.
WELT: Der erste Band von 1943 wurde in der Nachkriegszeit unverändert nachgedruckt. Fanden sich darin keine belastenden Stellen?
Hain: Doch. Das Geleitwort, das eindeutig nationalsozialistisch war, hat man entfernt. Der Rest war ohnehin eine relativ sparsame oder zurückhaltende Edition. Später musste man auch die Bände, die dann nach dem Zweiten Weltkrieg in dichter Folge erschienen, noch mal überarbeiten. Das hatte dann aber in erster Linie editionsphilologische Gründe. Während in der NS-Zeit die ideologische Ausrichtung zentraler Bestandteil des Projekts war, blieb der politische Einfluss in der DDR begrenzt und punktuell.
WELT: 25 Teilbände, wenn ich es richtig gezählt habe, bringen allein Briefe von und an Schiller. Wie viele Briefe sind das?
Hain: Von Schiller sind insgesamt etwa 2.200 Briefe überliefert. Zum Vergleich: Von Goethe kennen wir heute ca. 15.000 Briefe. Die Zahl der Schiller-Briefe war ursprünglich größer, aber leider sind nicht alle Schreiben erhalten geblieben. Ein Beispiel dafür ist die Korrespondenz mit Wilhelm von Humboldt: Von Humboldt sind heute 98 Briefe bekannt, aber nur 21 Briefe Schillers. Die übrigen sind – zum Teil schon zu Lebzeiten Humboldts in den Kriegswirren 1806 – verloren gegangen.
WELT: Wie kommt es, dass dieser Mann, der ein relativ kurzes Leben geführt hat, so viele Briefe hinterlassen hat?
Hain: Der Brief war zu jener Zeit das Kommunikationsmittel schlechthin. Und Briefe wurden auch nicht nur einzeln rezipiert, sondern man hat sie sich gegenseitig oder gar in Lesezirkeln vorgelesen, man hat sie ganz bewusst auch weitergegeben. Die Anweisung „Lesen Sie es bitte nicht vor!“ sollte das Ganze noch spannender machen. Das ist eine andere Kommunikation, als wir das heute mit Briefgeheimnis und Datenschutz kennen.
WELT: Der wichtigste Briefempfänger war Goethe. Aber wer ist der unwichtigste?
Hain: Es lässt sich schwer sagen, wer der „unwichtigste“ Briefempfänger war – denn dass nur ein einzelner Brief erhalten ist, heißt nicht, dass die Person unwichtig war. Einen einzigen erhaltenen Brief schrieb Schiller an den Komponisten Johann Rudolf Zumsteeg, einen Jugendfreund aus der Karlsschulzeit. Die beiden verband eine enge Freundschaft und Zumsteeg vertonte mehrfach Schillers Gedichte. Im Brief vom 19. Januar 1784 entschuldigt sich Schiller ausführlich dafür, dass er auf mehrere Schreiben Zumsteegs nicht reagiert habe – Krankheit und Arbeitsüberlastung hätten ihn abgehalten. Dass nur dieser eine Brief überliefert ist, sagt also nichts über die persönliche Bedeutung Zumsteegs für Schiller aus. Im Gegenteil: Der warme Ton des Schreibens zeigt, wie sehr Schiller die Verbindung zu dem 1802 verstorbenen Freund schätzte.
WELT: Welcher Brief kam von besonders weit her?
Hain: Briefe trafen beispielsweise aus Petersburg, London und Kopenhagen bei Schiller ein. Eine sehr große Distanz haben auch die drei Briefe aus der Korrespondenz mit Immanuel Kant zwischen Jena und Königsberg 1794 und 1795 überbrückt. Schiller hatte den Philosophen um Mitarbeit an den Horen gebeten. Kant, der sich wohlwollend zu Schillers „Briefen über die ästhetische Erziehung“ geäußert hatte, lehnte mit großer Höflichkeit und Freundlichkeit ab.
WELT: Im Band mit den Lebenszeugnissen ist auch Schillers Kalender gedruckt. Was kann man daraus lernen?
Hain: Typisch für diese Zeit waren Kalendarien, die Platz ließen für die Tagesführung. Das ist kein Tagebuch, in das sich das eigene Ich reflektierend zurückzieht, sondern es ist die Möglichkeit, den Lebensalltag zu rekonstruieren. Es gibt darin etwa Beschreibungen von Besuchen und Reisen, Aufzeichnungen, wann Briefe angekommen sind oder verschickt wurden, sowie Einträge zu Geldzahlungen und Lebensmittelbestellungen. Man notierte sich die Gegebenheiten des Tages. Solche Einträge helfen, bestimmte Ereignisse und Begegnungen aus anderen Quellen zu verstehen, deren Kontext zunächst unklar ist.
WELT: Wer hat den Kalender geführt? Er selbst oder ein Sekretär?
Hain: Von 1795 bis 1798 benutzte Schiller selbst angelegte, von 1799 bis 1805 vorgedruckte Kalender. Darin vermerkte er eigenhändig beispielsweise ein- und ausgehende Briefe, Geldzahlungen, Lebensmittelbestellungen, Besuche oder familiäre Ereignisse. Schreiber, wie sie Goethe hatte, musste man sich leisten können.
WELT: Was hat es mit der „Fieberschrift“ auf sich, die jetzt als nachgelassenes Werk im 43. Band erscheint?
Hain: 1779 fertigte Schiller als Kandidat der Medizin nach Ablehnung seiner ersten Abschlussschrift „Philosophie der Physiologie“ zwei weitere Arbeiten an der Hohen Karlsschule an. Auch seine Abhandlung „Über den Unterschied zwischen entzündlichen und fauligen Fiebern“ wurde nicht akzeptiert. Zu stark habe Schiller die gängige Lehrmeinung kritisiert, so das Urteil der Gutachter. Schließlich wurde sein „Versuch über die thierische Natur des Menschen mit seiner geistigen“ angenommen und Schiller promoviert.
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