Unionspolitiker bleiben bei ihrer Kritik. Die SPD hält an ihrer Kandidatin für das Verfassungsgericht fest. Brosius-Gersdorf selbst erklärt ihre Haltung und berichtet von Drohungen. Wie konnte es so weit kommen? Ein Überblick.

Die Ausgangslage

Nachdem die Unionsführung im Richterwahlausschuss zunächst grünes Licht für einen Kandidaten der Union und zwei Kandidatinnen der SPD für das Bundesverfassungsgericht gegeben hatte, zogen CDU und CSU am Freitag die Notbremse.

Die Union forderte den Koalitionspartner SPD auf, die Kandidatur von Frauke Brosius-Gersdorf zurückzuziehen. Mehrere Unionsabgeordnete bezeichneten Brosius-Gersdorf öffentlich als ungeeignet und unwählbar, andere ließen sich anonym zitieren, die Juraprofessorin sei "eine ultralinke Juristin".

Daraufhin wurde im Bundestag die Neubesetzung aller drei Richterposten an Deutschlands höchstem Gericht von der Tagesordnung genommen. Der Streit ist eine schwere Belastung für die erst seit Mai amtierende schwarz-rote Regierungskoalition.

Wer ist Frauke Brosius-Gersdorf?

Die Rechtswissenschaftlerin Brosius-Gersdorf ist Hochschullehrerin an der Universität Potsdam. Sie hat dort einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht inne.

Die 54-Jährige kann auf eine lange juristische Karriere zurückblicken. Nach einer Station bei einer Bonner Anwaltskanzlei schlug sie eine akademische Laufbahn ein: Sie forschte und lehrte unter anderem an den Universitäten Dresden, Hannover und Potsdam. Daneben war sie als Mitherausgeberin verschiedener juristischer Publikationen tätig. Sie ist zudem Mitglied der zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer und übernahm 2023 die Funktion als Herausgeberin eines renommierten Grundgesetz-Kommentars.

Was wird Brosius-Gersdorf vorgeworfen?

Von konservativer und rechter Seite gab es seit Tagen verschiedene Vorwürfe gegen Brosius-Gersdorf. Dabei geht es im Grunde um ihre Position zu drei verschiedenen Themen: einem möglichen Parteiverbot der AfD, der Impfpflicht in der Corona-Pandemie und der Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Im Vordergrund stand zuletzt vor allem ihre Haltung zu Schwangerschaftsabbrüchen.

Die Rechtswissenschaftlerin arbeitete 2023 und 2024 in der von der Ampelkoalition eingesetzten Kommission zu reproduktiver Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin mit. Diese empfahl unter anderem die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen bis zur zwölften Woche, was Brosius-Gersdorf Kritik aus der Union einbrachte. Anstoß nahm die Kritik vor allem an Brosius-Gersdorfs Aussage, es gebe gute Gründe dafür, dass die volle Garantie der Menschenwürde erst ab der Geburt gelte.

Was sagt Brosius-Gersdorf dazu?

Die Juristin selbst stellte am Dienstagabend in der ZDF-Talkshow Lanz klar: "Ich bin nie eingetreten für eine Legalisierung oder Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs bis zur Geburt." Es sei auch falsch, dass sie gesagt oder geschrieben haben soll, dass der Embryo kein Lebensrecht hat.

Richtig sei, dass sie für eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in der Frühphase eingetreten sei. "Straffrei ist er schon heute, aber er ist rechtswidrig, und ich bin der Meinung, dass er aus verfassungsrechtlichen Gründen rechtmäßig sein sollte."

Zuvor hatte die Juristin in einer schriftlichen Stellungnahme auch andere gegen sie erhobene Vorwürfe deutlich zurückgewiesen. "Die Bezeichnung meiner Person als 'ultralinks' oder 'linksradikal' ist diffamierend und realitätsfern", heißt es darin. "Ich vertrete absolut gemäßigte Positionen aus der Mitte unserer Gesellschaft." Dies könne jeder nachlesen.

Was ist mit den vermeintlichen Plagiatsvorwürfen?

Kurz vor der geplanten Richterwahl im Bundestag waren auch Plagiatsvorwürfe gegen Brosius-Gersdorf laut geworden. Der österreichische Kommunikationswissenschaftler Stefan Weber veröffentlichte Parallelen zwischen ihrer Doktorarbeit und der Habilitationsschrift ihres Mannes. Der selbsternannte "Plagiatsjäger" Weber war in der Vergangenheit bereits in die Kritik geraten, zuletzt wegen Plagiatsvorwürfen gegen die stellvertretende Chefredakteurin der Süddeutschen Zeitung, Alexandra Föderl-Schmid.

Brosius-Gersdorf sagte zu den Plagiatsvorwürfen im ZDF, sie seien "der letzte Versuch, mich zu verhindern". Sie habe sofort Spezialisten mit der Klärung beauftragt, berichtete die Juristin. Nach dem von ihr und ihrem Mann in Auftrag gegebenen Kurzgutachten ist ihr kein wissenschaftliches Fehlverhalten vorzuwerfen. "Die Prüfung hat ergeben, dass die Vorwürfe unbegründet sind und keine Substanz haben", erklären die Rechtsanwälte Michael Quaas und Peter Sieben von der Anwaltskanzlei Quaas und Partner in einem Begleitschreiben.

Die Stuttgarter Kanzlei gibt ausdrücklich eine vorläufige Bewertung ab. "Eine ausführliche rechtliche Bewertung soll ggf. zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen", heißt es in dem Kurzgutachten.

Die Kanzlei betrachtete ähnliche Fußnoten, Textstellen und Ähnlichkeiten in Überschriften. "Wenn sich bei inhaltlich vergleichbaren Fragestellungen beide Autoren auf die in der Regel begrenzte Anzahl an Veröffentlichungen beziehen, betrifft das die eigene wissenschaftliche Leistung schon nicht im Ansatz", schreibt die Kanzlei zum Thema Fußnoten.

"Auch die teilweise ähnlichen Ausführungen in den Texten deuten, und so stellt es auch Herr Dr. Weber dar, allenfalls auf einen gedanklichen Austausch hin, nicht aber darauf, dass einer der Beteiligten von der oder dem anderen, ohne dies kenntlich zu machen, Inhalte übernommen hätte. Das heißt, ein Plagiatsvorwurf steht schon per Definition nicht im Raum." Auch Stefan Weber selbst erklärte bei X, er habe keine Plagiatsvorwürfe gegen die Juristin erhoben.

Außerdem gehe es nur um wenige Stellen, quantitativ und qualitativ fielen diese nicht ins Gewicht, heißt es weiter in dem Kurzgutachten. Auch sei die Habilitationsschrift ihres Mannes später erstellt worden als die Doktorarbeit von Brosius-Gersdorf selbst.

Warum ist von einer Kampagne die Rede?

Das Politikberatungsnetzwerk Polisphere zeichnete nach, wie binnen weniger Tage in rechten Medien und sozialen Medien massiv Stimmung gegen die Juristin gemacht wurde. Die Desinformationsexpertin Hannah Schimmele spricht im Interview mit tagesschau24 von einer Kampagne, "weil ganz klar ist, dass durch diese Kommunikation ein bestimmtes Ziel erreicht werden sollte: Frau Brosius-Gersdorf sollte als Verfassungsrichterin verhindert werden".

Begonnen habe es Ende Juni. "Es gab zuallererst einen Artikel von der FAZ, der sachlich über alle drei Personalien berichtet hat. Und dann wurde sich sehr schnell in den sogenannten Alternativmedien des rechtspopulistischen Spektrums auf Brosius-Gersdorf konzentriert und da ihre Positionen ausgearbeitet, die als links bis linksextrem dargestellt wurden."

Hannah Schimmele, Beratungsnetzwerk polisphere, mit einer Analyse zum Fall Brosius-Gersdorf

tagesschau24, 16.07.2025 11:00 Uhr

Zudem gab es auf einer abtreibungskritischen Plattform ein Mail-Tool, womit Nutzer automatisiert E-Mails versenden konnten, die dazu auffordern, Brosius-Gersdorf nicht zu wählen. Wie der Spiegel berichtet, seien mehr als 38.000 Mails werden auf diesem Wege versendet worden.

Brosius-Gersdorf selbst sagte, es gehe nicht mehr nur um sie. "Es geht auch darum, was passiert, wenn sich solche Kampagnen, und es war in Teilen eine Kampagne, durchsetzen, was das mit uns macht, was das mit dem Land macht, mit unserer Demokratie."

Sie berichtete, sie habe Drohungen und verdächtige Poststücke erhalten. "Ich musste vorsorglich meine Mitarbeitenden bitten, nicht mehr am Lehrstuhl zu arbeiten", sagte Brosius-Gersdorf. Die Berichterstattung über die Verfassungsrichterwahl und ihre Person sei "nicht spurlos an mir vorbei gegangen, nicht an mir, nicht an meinem Mann, an meiner Familie, meinem gesamten sozialen Umfeld".

Wie ist die Lage in der Union?

Dass die eigentlich geplante Wahl nicht stattfinden konnte, war ein schwerer Schlag für Bundeskanzler Friedrich Merz und für Unionsfraktionschef Jens Spahn. Beide hatten dem SPD-Fraktionschef Matthias Miersch und dem Co-Parteichef Lars Klingbeil offenbar mehrfach versichert, dass die Union mitwählt.

Spahn räumte inzwischen Fehler ein. Die Dimension der grundlegenden Bedenken gegen eine der Kandidatinnen habe man unterschätzt. "Die Notbremse am Freitag kam zu spät." Man sei nicht mehr in der Lage gewesen, einen Kompromiss mit der SPD zu finden.

Merz will das weitere Vorgehen in den kommenden Wochen besprechen. "Mein Wunsch wäre, dass wir im Deutschen Bundestag zur Lösung kommen und dass wir nicht den Ersatzwahlmechanismus auslösen müssen, dass der Bundesrat die Wahl vornimmt, die eigentlich der Bundestag vornehmen müsste." Damit bleibt er bei dem, was er am Sonntag im ARD-Sommerinterview gesagt hatte.

Die Union betont also, es gebe keinen Zeitdruck für eine Lösung - macht aber auch nicht den Eindruck, ihre inhaltliche Haltung zu ändern. Ein gemeinsames, mehrheitsfähiges Kandidaten-Paket gelinge nur mit weniger gegenseitigen Vorwürfen und mehr Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht, den Kandidaten und der Entscheidung der Abgeordneten, sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann am Dienstag der Nachrichtenagentur dpa.

Was sagt die SPD dazu?

In der SPD ist der Unmut über die Absage vom Freitag groß. "Deswegen ist für uns natürlich auch selbstverständlich klar: Wir halten an unserer Kandidatin fest", sagt die rechtspolitische Sprecherin der SPD, Carmen Wegge.

"Frau Professor Brosius-Gersdorf bestätigt mit ihrer Erklärung genau das, was wir seit Tagen sagen: Die ihr vorgeworfenen Äußerungen waren falsch, verkürzt dargestellt oder unzutreffend", sagte Fraktionsvize Sonja Eichwede der Nachrichtenagentur dpa. Sie rief die Union erneut auf, das Gespräch mit Brosius-Gersdorf zu suchen. Dazu haben sich CDU und CSU noch nicht geäußert.

Und die Opposition?

Die Grünen im Bundestag drängen die Koalition, eine Sondersitzung zur Wahl von drei Verfassungsrichtern noch in dieser Woche zu ermöglichen. Die Fraktionschefinnen Katharina Dröge und Britta Haßelmann forderten ihre Amtskollegen Spahn und Miersch in einem Brief auf, "die Durchführung einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages für diese Woche zu beantragen mit dem Ziel, die Wahl der drei vom Richterwahlausschuss nominierten Richterinnen und Richter für das Bundesverfassungsgericht vorzunehmen". Es sei unverantwortlich, "diese wichtige Entscheidung des Bundestags über Wochen offenzulassen", mahnen die Grünen-Fraktionschefinnen.

Die Linke hingegen lehnt eine Sondersitzung ab. Parteichefin Ines Schwerdtner sagte ARD-Morgenmagazin: "Ich bin strikt gegen eine Sondersitzung, bis nicht alle Fakten auf dem Tisch liegen und auch geklärt sind." Eine Sondersitzung, die am Ende 200.000 Euro koste, wenn man alle Abgeordneten aus der Sommerpause zurückhole, sei überhaupt nicht zu legitimieren. Die Regierung sei jetzt in der Pflicht, eine Einigung über die Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht herbeizuführen.

Die AfD sieht nach der Verschiebung der Wahl von Verfassungsrichtern eine "Regierungskrise". Zugleich zeigte sich Co-Fraktionschef Tino Chrupalla erleichtert, dass die Wahl vorerst nicht stattfand. Union und SPD hätten Kandidaten aufgestellt, die nicht mehrheitsfähig gewesen seien, sagte Chrupalla.

"Wir werden sie vermutlich weiter unterstützen", Ines Schwerdtner, Vors. Linkspartei, zur Causa Brosius-Gersdorf

Morgenmagazin, 16.07.2025 05:30 Uhr

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