Die Pläne von Verteidigungsminister Pistorius für einen neuen Wehrdienst setzen vor allem auf Freiwilligkeit. Doch der Militärhistoriker Sönke Neitzel wirbt dafür, die Wehrpflicht sofort wieder einzuführen.
tagesschau.de: Eines der größten Probleme der Bundeswehr ist die Personallage. Verteidigungsminister Boris Pistorius sagt, man bräuchte, um die NATO-Vorgaben zu erfüllen, 260.000 Soldatinnen und Soldaten. Im Moment schafft es die Bundeswehr aber noch nicht einmal, die angestrebte Größe von 200.000 zu erreichen. Wie sehen Sie diese ganze Debatte? Und bräuchte man nicht doch eine Wehrpflicht?
Sönke Neitzel: Die offizielle Linie des Ministers ist, dass er jetzt ein Gesetz einbringen wird, das auch den Pflichtanteil vorsieht. Das ist schon mal gut. Wunderbar sogar. Dass man den Pflichtteil einsetzen kann, wenn man feststellt: Man hat zu wenig Freiwillige. Das alles ist, glaube ich, ein Eingehen auf die SPD, die aus mir nicht erkennbaren Gründen gegen die Wehrpflicht ist. Obwohl sie damals 2011 gegen die Aussetzung der Wehrpflicht war.

"Wir verlieren Zeit"
tagesschau.de: Der letzte Parteitag der SPD hat sich grundsätzlich gegen eine Wehrpflicht ausgesprochen. Erst wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, soll sie reaktiviert werden können.
Neitzel: Meines Erachtens unsinnigerweise, weil das ja keine Vollidioten bei der NATO sind, die diese "Force Models" erarbeiten. 260.000 sind jetzt im Vergleich zu deutschen Streitkräften, die wir im und nach dem Kalten Krieg hatten, auch nicht riesig. Wir hatten mal 370.000 nach der Wiedervereinigung. Also sind 260.000 für ein Land von 82 Millionen Einwohnern keine "Militarisierung". Eigentlich ist klar: Wir brauchen die. Sowie 200.000 Reservisten. Und jedem ist klar: Es wird mit einer Freiwilligkeit nicht funktionieren.
Jetzt kann man das prüfen. Dabei ist es völlig klar und eindeutig, dass man diese Zahl von 80.000 zusätzlichen Kräften nicht erreichen wird. Wir verlieren Zeit. Wir müssen doch alles tun, um eine Konfrontation zu verhindern. Und dann müssen wir doch auch klare Signale der Einigkeit und der Abschreckung senden.
"Die Bevölkerung ist so weit"
tagesschau.de: Das heißt, Sie würden dafür plädieren, jetzt klar zu sagen: Wir brauchen die Wehrpflicht sowieso früher oder später. Dann sollten wir sie lieber sofort einführen?
Neitzel: Ja, das ist völlig eindeutig. Beim Heer könnte man sofort heute 5.000 Wehrpflichtige aufnehmen, für die hat man ein Bett, einen Helm, ein Gewehr. Adenauer hat auch nicht mit 200.000 Wehrpflichtigen angefangen, in den 1950er-Jahren hatte man keine Kasernen und musste das eben auch aufbauen.
Man kann jetzt anfangen und hat damit das politische Signal gesetzt: Ja, diese Republik ist bereit, sich anzupassen. Sie hat die Wehrpflicht ausgesetzt in einer bestimmten sicherheitspolitischen Lage. Und sie ist natürlich in der Lage, sie wieder einzusetzen.
Und die Bevölkerung ist so weit. Wir sehen ja die neuesten Umfragen des ARD-DeutschlandTrends, dass jetzt etwa 70+ Prozent für die Einführung der Wehrpflicht sind und sogar bei den jüngeren Jahrgängen ist es eine knappe Mehrheit. Also: Auf was wartet Ihr?
"Diese Angst, Schritte zu gehen, schwächt uns"
tagesschau.de: Nun argumentiert Verteidigungsminister Boris Pistorius aber: Wenn man die Wehrpflicht jetzt sofort einführen würde, wäre die Truppe völlig überfordert. Man könnte gar nicht so viele aufnehmen, weil die Kasernen nicht da sind, die Strukturen, die Ausbildungsmittel. Macht es da nicht Sinn, es zunächst mit Freiwilligkeit zu probieren statt mit Zwang?
Neitzel: Es geht sowieso nicht um die allgemeine Wehrpflicht, wie wir sie im Kalten Krieg hatten mit mehr als 240.000 Wehrpflichtigen. Darüber redet ja gar keiner. Es geht um eine Auswahl-Wehrpflicht. Klar wäre die Bundeswehr jetzt mit 40.000 oder so überfordert. Aber die Zahlen, die ich vom Heer kenne, besagen: Morgen 5.000 Wehrpflichtige auf dem Hof - das würde gehen. Wir können ja klein anfangen.
Aber wenn ein Krieg ausbräche, dann müssten wir auch schnell handeln. Dann können wir auch nicht erst einmal Arbeitskreise bilden. Ich glaube, innerhalb der Bundeswehr sind viele gute Leute - lasst die mal machen! Diese Angst, Schritte zu gehen, schwächt uns. Es schwächt auch die Demokratie, wenn die Leute den Glauben verlieren, dass wir uns wirklich reformieren können. Ich glaube, dass die Bundeswehr dazu in der Lage ist, wenn man sie machen lässt. Und dass es letztlich eine politische Diskussion ist.
"Jede Innovation wird tot-bürokratisiert"
tagesschau.de: Damit sind wir beim Thema Bundeswehrreform und Struktur. Wenn ich Sie richtig verstehe, lässt sich das auf die Formel bringen: Der Kopf ist einfach zu gewaltig und die Basis ist zu schwächlich. Pistorius hat die Bundeswehrreform fast zur Chefsache gemacht, hat gesagt: In seinem Ministerium müssen neue Strukturen eingezogen werden. Was läuft da aus Ihrer Sicht noch schief?
Neitzel: Das hat ja alles nichts gebracht. Also im Ministerium gibt es 3.000 Stellen. Es ist das alte Problem, dass seit zehn Jahren die Zahl der Stellen in den Ministerien überall - nicht nur im Verteidigungsministerium - massiv ansteigen. Und da muss man eben massiv runter. Bei der Bundeswehr sind über 50 Prozent der Soldatinnen und Soldaten nicht im Kern der Auftragserfüllung, nicht in den Brigaden, Flottillen, Geschwadern.
Die Israelis haben 25 Prozent in diesem sogenannten Overhead. Den braucht man, man braucht Verwaltung und Stäbe - aber eben nicht in dieser Menge. Und ich habe mal geschrieben, dass 30 Prozent so eine Kennzahl wäre, die für die Bundeswehr funktionieren würde. Aber das würde eben bedeuten, dass wir im Overhead mindestens 30.000 zu viel haben.
Wir überaltern auch. Da müsste man meines Erachtens ran. Weil wir so viele Ämter und Stäbe haben, wird jede Innovation tot-bürokratisiert. Das wäre ein Kraftakt. Aber jeden Schritt, den wir jetzt nicht gehen, werden wir im Ernstfall mit dem Blut unserer Soldaten bezahlen.
Dies ist eine gekürzte Fassung des Interviews, das Kai Küstner für den NDR-Info-Podcast "Streitkräfte und Strategien" mit Sönke Neitzel führte.
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