Inhalt des Artikels:

  • Lange war die EU taub gegenüber den Klagen der serbischen Opposition
  • Klientelismus und straffe Hierarchie
  • Ist Serbien eine Scheindemokratie?
  • Verfassungswidrige Machtstruktur
  • Ein Land, ein Volk, ein Führer

Serbien ist formal ein EU-Beitrittskandidat. Die regierende Serbische Fortschrittspartei – kurz SNS – ist seit 2016 assoziiertes Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP). Nun scheint das Verhältnis jedoch zerrüttet: Die EVP erwägt, die SNS aus den eigenen Reihen zu verbannen, so wie sie 2019 die Fidesz-Partei von Viktor Orban suspendierte.

Ausschlaggebend für die Missbilligung bei den europäischen Konservativen war eine äußerst brutale Aktion der serbischen Polizei bei friedlichen Bürgerprotesten in Novi Sad im September 2025. Polizisten schlugen alles kurz und klein, schmissen Schockbomben, schikanierten und verhafteten massenhaft Demonstranten – auch Journalisten wurden nicht verschont. Die Hauptstadt der Vojvodina erstickte in Wolken von Tränengas, das in unglaublichen Mengen abgefeuert wurde.

Einige europäische Abgeordnete, die sich zu dieser Zeit in Novi Sad befanden, nannte Serbiens Staatspräsident und informeller Chef der SNS, Aleksandar Vučić, "europäischen Abschaum", der gekommen sei, um seiner Entmachtung beizuwohnen. Inzwischen kommt harsche Kritik an der politischen Führung Serbiens auch vom EU-Parlament.

Lange war die EU taub gegenüber den Klagen der serbischen Opposition

Dass etwas sehr faul ist im Staate Serbien, behaupten serbische Oppositionsparteien und kritische Medien seit langem. Doch weder die EVP noch die Europäische Kommission wollten das lange nicht zur Kenntnis nehmen. Serbien sei keine Demokratie, sondern eine Autokratie, beklagen sich die proeuropäische Opposition und Nichtregierungsorganisationen aus Serbien in Brüssel und Straßburg seit Jahren. Ihre Argumentation: Die SNS habe sich über Gesetze hinweggesetzt, staatliche Institutionen "okkupiert", Medien gleichgeschaltet, alle möglichen sogenannten europäischen Werte zertrampelt und würde – vor allem – Wahlen fälschen.

Außerdem bemängelt die Opposition, Staatspräsident Vučić würde verfassungswidrig die Macht über die überdimensionale SNS ausüben, die in alle Poren der Gesellschaft eingedrungen sei. Die Partei hat nach eigenen Angaben mehr als 700.000 Mitglieder, in etwa doppelt so viel wie die größten deutschen Parteien CDU und SPD, wobei Serbien nicht einmal ein Zwölftel der Einwohnerzahl Deutschlands hat. Obendrein habe die SNS ihre eigenen Schlägertrupps, zusammengesetzt aus Kriminellen, die nach Bedarf eingesetzt würden, um Bürger zu "disziplinieren", warnen seit langem die wenigen noch verbliebenen regierungskritischen Medien in Serbien. Was ist das also für eine Partei, die die europäischen Volksparteien einst so liebevoll umarmt haben?

Ausschlaggebend für die Missbilligung bei den europäischen Konservativen war eine äußerst brutale Aktion der serbischen Polizei bei friedlichen Bürgerprotesten in Novi Sad im September 2025.Bildrechte: IMAGO / NurPhoto

Klientelismus und straffe Hierarchie

"Die SNS ist keine richtige politische Organisation", meint Đorđe Pavićević, Parlamentsabgeordneter und Professor an der Fakultät für Politikwissenschaften der Uni Belgrad. "Es ist eine klientelistische Struktur mit einer militärähnlichen Hierarchie, in der alle Entscheidungen an der Spitze getroffen und über eine Reihe von Mittelmännern nach unten durchgegeben und durchgeführt werden“, sagte er dem MDR. "Es gibt keine Entscheidungsprozeduren, Politik wird nicht geformt, es wird nicht kandidiert, man stößt nur auf Akklamation der Entscheidungen eines einzigen Mannes, des Staatspräsidenten Aleksandar Vučić", so Pavićević.

Die SNS basiere auf der Usurpation und dem Missbrauch staatlicher Ressourcen und Institutionen, erklärt er weiter, vor allem im Bereich der Sicherheit. Dadurch komme sie an Finanzmittel, mit denen sie nicht nur die Loyalität der Parteimitglieder bezahle, sondern auch der paraparteilichen Strukturen um sie herum – beispielsweise einer ganzen Reihe von Unternehmen, Agenturen, Verbänden, Sportklubs und informellen kriminellen Gruppen.

Seit ihrer Gründung 2008 befindet sich die Serbische Fortschrittspartei auf einem politischen Feldzug. Das hat sich auch nach 2012 nicht geändert, als sie die Macht ergriffen hatte. Die SNS betrachtet andere Parteien nicht als Konkurrenz, sondern als Feinde. Andersdenkende werden als Verräter, Auslandsöldner, "Antiserben", Kriminelle oder Terroristen gebrandmarkt.

Wie es um die serbische Demokratie steht, zeigt auch die Tatsache, dass die SNS, bis auf eine einzige Gemeinde in Südserbien und Ortschaften, wo mehrheitlich nationale Minderheiten leben, überall und auf allen Ebenen an der Macht ist – vom kleinsten Kaff, über Großstädte, bis hin zur Provinz Vojvodina.

Immer wieder organsiert die SNS große Demonstrationen von Anhängern der Partei wie 2023 in Belgrad.Bildrechte: IMAGO / Pixsell

Ist Serbien eine Scheindemokratie?

"Serbien ist eine Scheindemokratie", sagt Dejan Bursać, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie und Gesellschaftstheorie in Belgrad. "Politologen bezeichnen das auch als ein hybrides Regime oder wettbewerbsorientierten Autoritarismus. Das ist eine graue Zone zwischen Demokratie und einem autoritären Regime", erläutert Bursać. Politische Parteien und Führungspersönlichkeiten in solchen Systemen schafften auf Druck von innen und außen eine demokratische Fassade. Serbien verfüge also über demokratische Institutionen, aber die politische Praxis, die Machtausübung, die Missachtung der Prozeduren, die Manipulation, seien ausgesprochen autokratisch, so der Wissenschaftler.

"So wie in Serbien auf Staatsebene Demokratie vorgetäuscht wird, täuscht die SNS in einem gestörten Parteiensystem vor, eine politische Partei zu sein. Es ist eigentlich eine Massenbewegung, die auf Personenkult beruht und sich mit dem Staat gleichsetzt", meint Bursać. Die SNS spanne ein informelles Machtnetz über das ganze Land, in dem Geschäftsinteressen verflochten seien. Die Macht werde nicht, wie in normalen politischen Parteien, über Parteistrukturen ausgeübt, sie liege allein in den Händen von Staatspräsident Vučić.

Der serbische Politikwissenschaftler Dejan BursaćBildrechte: Institut für Philosophie und Sozialtheorie der Universität Belgrad/MDR

Verfassungswidrige Machtstruktur

Bursać nennt ein schlichtes Beispiel für seine Behauptung: Laut serbischer Verfassung sei der Ministerpräsident die mächtigste politische Figur im Lande, in einer idealen Demokratie sollte es der Vorsitzende der stärksten Partei sein. Der Vorsitzende der absolut dominanten SNS habe jedoch lediglich die Funktion eines Beraters des Staatspräsidenten, der im informellen Machtsystem über alles entscheide. Vučić sei dabei formal, wie er selbst zu sagen pflegt, "nur ein einfaches Mitglied der SNS", doch alle wüssten, dass er die unantastbare Führungsfigur in Staat und Partei sei. Und der aktuelle Regierungschef sei nicht einmal SNS-Mitglied, sondern eine "anonyme" Person aus einer Phantombewegung unter dem Namen "Bewegung für Volk und Staat", die Vučić parallel zur SNS gegründet hatte. Er selbst entscheide natürlich darüber, wer das Mandat bekomme, die Regierung zu bilden.

Ein Land, ein Volk, ein Führer

"Die SNS identifiziert sich mit dem Staat, und so wird jeder Angriff auf die Partei als ein Angriff auf den Staat gedeutet", sagt Bursać. Dabei hat sie sich breit im Zentrum der politischen Landschaft positioniert, und bezeichnet alles rechts und links von ihr als Extremismus.

Dass die SNS keine richtige, funktionale politische Partei ist, erkenne man auch in der aktuellen politischen Krise: "Nach elf Monate währenden Massenprotesten, bei einer Eruption allgemeiner Unzufriedenheit und einem Absturz der Popularität, der die Existenz der Partei bedroht, lehnt es Vučić hartnäckig ab, vorgezogene Parlamentswahlen auszuschreiben, um die Lage zu beruhigen. Dennoch kommt keine einzige Fraktion innerhalb der SNS zum Vorschein, die sich gegen die Parteiführung auflehnen würde", erzählt Bursać. Es gebe einfach keine Fraktionen, keinen Wettbewerb innerhalb der Organisation des Staatspräsidenten. Das unterscheide die SNS im Wesentlichen von politischen Parteien in demokratischen Ländern.

MDR (baz/voq)

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