Mehr als 3.000 Gebäude sind in Kiew seit Beginn des Krieges zerstört oder beschädigt worden. Die Bewohner fühlen sich oft im Stich gelassen. Bauen dauert lange - und immer mehr fehlen die Männer.

"Hier ist schon alles runtergefallen", sagt Vitalij Martschenko, während er durch die Zeichnungen seiner Kinder blättert, die lose von der Wand hängen. "Das hier hat Matwij gemalt. Unser kleiner Matwijtschik." Martschenko nimmt ein buntes, mit Wasserfarben gemaltes Bild von der Wand. Rot, blau, etwas gelb in der Mitte - das Gekritzel seines sechs Jahre alten Sohnes.

Für ihn und seine Familie sei es unmöglich, hier zu leben, sagt Martschenko. Selbst wenn die Wohnung wieder so aufgebaut würde, dass man sicher hier leben könnte.

Hinter dem Familienvater klafft ein großes Loch in der Wohnung. Die Wand des Kinderzimmers fehlt. Sie hat vor etwa zwei Monaten den kleinen Matwij im Schlaf getötet, heruntergerissen von einer russischen Rakete, die in dem Haus einschlägt.

200 Euro Soforthilfe - danach wird es kompliziert

"Die Luftwaffe sagt, zwischen Alarm und Einschlag lagen nur vier, fünf Minuten", erinnert sich der Familienvater. "Selbst wenn wir ihn gehört hätten, hätten wir es nicht rausgeschafft." Nur ein paar wenige Sachen konnten die Martschenkos aus der von der Explosion völlig zerstörten Eigentumswohnung retten. Nun lebt die Familie in einer Einzimmerwohnung - gemeinsam mit ihren zwei Söhnen, die den Angriff überlebt haben.

Weil die kleine Ein-Zimmer-Wohnung ebenfalls im Besitz der Familie ist, habe er jetzt kein Anrecht auf finanzielle Entschädigung, berichtet der Vater. Umgerechnet etwa 200 Euro Soforthilfe erhalten die Menschen in Kiew, wenn ihre Wohnung bei russischen Luftangriffen zerstört wird. Weitere Hilfe muss kompliziert beantragt werden.

Hätten sie sich nicht selbst an die Behörden gewandt, hätten sie gar nichts bekommen, sagt Martschenko. "Man muss Kraft sammeln, herumlaufen, Anträge stellen, in Schlangen stehen. Wenn irgendwo ein Dokument fehlt, muss man am nächsten Tag wiederkommen. Nichts passiert automatisch." Es sei nicht so, dass man einen Antrag stellen und warten könne.

Frustration der Anwohner

Bei dem Angriff auf den alten Plattenbau im Westen der ukrainischen Hauptstadt wurden fast 30 Menschen getötet. Die Überlebenden sind sauer. Werfen den Kiewer Behörden Chaos und Intransparenz vor. Bei einem Treffen mit Vertretern der Verwaltung machen sie ihrem Ärger Luft.

Das Problem: Die allermeisten Anwohner des zerstörten Hauses sind Eigentümer ihrer Wohnungen, wie in der Ukraine oft üblich. Jetzt können es sich viele nicht leisten, eine neue Wohnung zu mieten oder gar zu kaufen. Stella Morosowa organisiert die Nachbarschaftsinitiative, um endlich klare Informationen von den Behörden zu erhalten.

"Wir haben eine Forderung: Gebt uns eine Bescheinigung darüber, dass wir Anrecht auf neuen Wohnraum haben", verlangt sie. Und sie wollen wissen, wie es mit dem Haus weitergeht. "Wird der beschädigte Aufgang repariert oder vollkommen abgerissen? Das liegt im Ermessen der Baukommission des Kiewer Stadtrats."

Eine Bescheinigung, dass ein Anrecht auf neuen Wohnraum besteht, bedeutet finanzielle Kompensation - und würde es vielen Familien ermöglichen, sich eine neue Wohnung leisten zu können. Wer keine Rücklagen hat, um eine neue Wohnung anzumieten, erhält monatlich umgerechnet etwa 400 Euro staatliche Unterstützung. Besonders in den Randbezirken der Hauptstadt würde das Geld für eine Zwei-Zimmer-Wohnung reichen. Doch die bürokratischen Prozesse sind lang und für viele undurchsichtig - auch nach mehr als drei Jahren Angriffskrieg.

Auch Bauen dauert lange

Dabei wird in der ukrainischen Hauptstadt wieder aufgebaut. Oleksandr Akimow, Chef einer Kiewer Baufirma, führt über seine Baustelle. Auch hier tötete eine russische Rakete 13 Menschen. Ein Jahr ist das jetzt her - und keine der Wohnungen bezugsfertig. Ein Teil des Gebäudes muss komplett neu gebaut werden, etliche Wohnungen wurden stark beschädigt und werden aktuell renoviert.

"Der gesamte Prozess dauert sehr lange", beklagt Akimow. "Währenddessen verfällt so ein Gebäude weiter." Irgendwann sind die Fenster kaputt, das Dach ist beschädigt. Das Gebäude leide unter der Witterung, Schnee und Regen.

Gutachten, Prüfung, Entwurf, Kostenermittlung, Ausschreibung, Auftragsvergabe, Baugenehmigung - bis zum Beginn eines Wiederaufbaus vergehen oft bis zu acht Monate, erklärt Oleksandr Akimow. Auch er wünscht sich schnellere Verfahren. Denn die Probleme werden immer größer. Allein im vergangenen halben Jahr seien in Kiew bei russischen Angriffen fast doppelt so viele Häuser zerstört worden wie in den ersten drei Jahren des russischen Angriffskriegs zusammen.

Und Akimow sieht sich und seine Firma vor einem weiteren Problem: "Viele Bauarbeiter werden in die Armee eingezogen, die Zahl der Mitarbeiter in den Unternehmen sinkt." Auch in der Produktion von Baumaterialien sei das der Fall. Genauso sinke die Zahl der Fahrer in den Transportunternehmen. "Alles wird noch länger dauern", befürchtet der Firmenchef.

"Die haben nicht erlebt, was wir durchgemacht haben"

Vitalij Martschenko versucht, stark zu sein - für die zwei Söhne, die überlebt haben. Die weiter betreut werden müssen, in die Schule gehen, Hilfe bei den Hausaufgaben benötigen. Zeit zu trauern und das Erlebte zu verarbeiten bleibt da kaum. Auch psychologische Hilfe sei von den Behörden nicht organisiert worden, berichtet er. Lediglich eine Nichtregierungsorganisation habe Unterstützung angeboten.

"Wir sind gewissermaßen verzweifelt", sagt der Familienvater. Er wünscht sich mehr Einfühlungsvermögen von den Behörden. "Die Leute verstehen das einfach nicht", sagt er. "Die Mitarbeiter haben nicht erlebt, was wir durchgemacht haben, und wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen."

Und dann geht er wieder los - der Luftalarm, wie so oft in der Ukraine. Martschenkos Sohn Mischa ist gerade aus der Schule gekommen, will eigentlich mit seinem Vater zurück in die kleine Ein-Zimmer-Wohnung. Ängstlich lauscht er dem Heulen der Sirenen. Dann steigen Vater und Sohn hastig die vielen Stufen hinunter; verlassen das zerstörte Haus, das einst ihr Zuhause war.

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