Inhalt des Artikels:

  • Bildung, Sprachkenntnisse, Vorstrafen: Gemeinden können sich Bürger aussuchen
  • Wie entschieden wird, wer zuziehen darf
  • Gesetz ermöglicht Diskriminierung
  • Gesetz als Scheinlösung für reales Problem
  • Gesetz für "lokale Identität" auch juristisch umstritten

In einem freien Land können die Bürger selbst entscheiden, wo sie wohnen wollen. Auch in Ungarn ist das ein in der Verfassung garantiertes Grundrecht. Es darf nur zur Wahrung anderer Grundrechte eingeschränkt werden. Und zu den Grundrechten ist im April eines hinzu gekommen: das "Recht lokaler Gemeinschaften auf Identität". Möglich machte das die Zweidrittelmehrheit von Ministerpräsident Viktor Orbáns Fidesz-Partei im ungarischen Parlament. Was genau unter der Identität einer Gemeinschaft zu verstehen ist, wird aber nicht definiert.

Im Juni wurde das Gesetz "zum Schutz der lokalen Identität" verabschiedet. Darin heißt es: "Es muss eine geregelte Möglichkeit geschaffen werden, dass die Gemeinden bestimmen können, wer in die Gemeinde ziehen darf und mit wem die Gemeinschaft zusammenleben möchte." Dies erlaubt den Gemeinden, Bedingungen festzulegen, unter denen dort jemand einen Wohnsitz neu anmelden darf. Auch können sie mittels Vorkaufsrecht festlegen, dass nur die Kommunalverwaltung oder schon in der Gemeinde Ansässige eine Immobilie kaufen dürfen.

Bildung, Sprachkenntnisse, Vorstrafen: Gemeinden können sich Bürger aussuchen

Das neue Gesetz räumt den Gemeinden einen großen Spielraum ein. In Verordnungen "zum Schutz der lokalen Identität" haben bereits mehrere Gemeinderäte festgelegt, dass Neuzuziehende über eine Arbeit oder Ungarischkenntisse verfügen müssen oder nicht vorbestraft sein dürfen.

Der kleine Ort Taktaharkány im Nordosten Ungarns fordert sogar einen Sekundarschulabschluss, wenn jemand neu dorthin ziehen will. Der Fidesz-Bürgermeister des Ortes Ákos Szemán begründete dies gegenüber der Presse damit, dass es in der Gemeinde zu wenige Fachkräfte gebe.

Die Stadt Sátoraljaújhely – ebenfalls im Nordosten Ungarns gelegen und von der Fidesz-Partei regiert – verweigert Personen mit Vorstrafen den Zuzug. Bürgermeister Péter Szamosvölgyi erklärte in einer Online-Pressekonferenz, dass die Einwohner der Stadt nicht mit Kriminellen zusammenleben wollen. Er meint, mit einer solchen Verordnung berücksichtige man die Interessen der in der Stadt lebenden Menschen.

Wie entschieden wird, wer zuziehen darf

Manche Gemeinden fordern zusätzlich, dass Menschen, die sich dort niederlassen wollen, zu einem persönlichen Gespräch erscheinen. Nur wenn sie anschließend eine "positive Beurteilung" erhalten, können sie in die Gemeinde ziehen. Auf welcher Grundlage aber ein Gemeinderat eine "positive Beurteilung" vornimmt, ist nicht geregelt, was Wilkür Tür und Tor öffnen könnte.

Manche Gemeinden verlangen sogar einen finanziellen Beitrag von den Zuzüglern: Bisher sind Beispiele bekannt, in denen bis zu 1,5 Millionen Forint (etwa 3.800 Euro) gefordert werden. Nicht zuletzt erlauben sich die Gemeinderäte aber auch in eigenem Ermessen festzulegen, dass bestimmte Personen all diese Bedingungen nicht erfüllen müssen.

In einigen ungarischen Gemeinden muss man vorher ein "Bewerbungsgespräch" absolvieren, wenn man sich dort niederlassen will. (Symboldbild)Bildrechte: Colourbox.de

Gesetz ermöglicht Diskriminierung

Das neue Gesetz stößt in Ungarn auch auf Kritik. Es verstoße gegen die Verfassung, heißt es. Außerdem begünstige es Diskriminierung und Missbrauch. Die Vertreter mehrerer ungarischer Roma-NGOs beschreiben es ganz offen als ein Instrument, mit dem Roma davon abgehalten werden sollen, sich in bestimmten Gemeinden niederzulassen.

Béla Rácz ist Vorsitzender des Vereins 1Magyarország (deutsch "1Ungarn"), in dem sich ungarische Roma-Intellektuelle organisieren. Rácz forderte in einem Social Media-Beitrag, das Gesetz müsse zurückgenommen werden: "Jede faschistische Ausgrenzung beginnt mit Worten und Gesetzen: Zuerst nehmen sie uns unsere Rechte weg, dann unsere Menschenwürde! Und dann wird das zur `Normalität`, wird Teil des Alltags."

Gyöngyöspata: Kinder im Romaviertel des ungarischen Dorfes.Bildrechte: imago images/EST&OST

Zwar steht im Gesetz auch, dass es ohne Verletzung der Menschenwürde und ohne unbegründete Diskriminierung anzuwenden ist. Doch das verhindert offenbar nicht, dass genau das geschieht. Für Kritiker wie den parteilosen Bürgermeister des Ortes Budaörs, Tamás Wittighoff, steht fest: "Gegen dieses Gesetz muss protestiert werden, weil es Grundrechte verletzt." Obwohl in seiner Gemeinde nahe Budapest Grundstückseigentümer ohne Baugenehmigung Häuser errichten und obwohl das Bevölkerungswachstum die städtische Infrastruktur zu überlasten droht, plant Budaörs keine Verordnung zur Wahrung der "lokalen Identität".

Gesetz als Scheinlösung für reales Problem

Um den Problemen zu begegnen, die mit einem anhaltenden Zuzug in die Ballungsräume der Großstädte entstehen, sei das Gesetz nicht geeignet, so Wittighoff. Stattdessen sollte der Staat den Gemeinden lieber die Hoheit darüber zurück übertragen, Bauvorhaben auf ihrem Gebiet zu genehmigen und zu überwachen. "Das Gesetz dient nur dazu, dass die Kommunalverwaltung bestimmte gesellschaftliche Gruppen diskriminiert, indem sie unter den zukünftigen Einwohnern `selektiere`", sagt Wittinghoff. Er bezeichnet allein schon die Idee als "schrecklich".

Sogar die Fidesz-Regierung räumt jetzt ein, dass die Kritik am Gesetz begründet sein könnte. Der Fidesz-Minister für regionale Entwicklung Tibor Navracsics sagte in einem Interview, es "scheine stark diskriminierend zu sein", wenn der Zuzug in eine Gemeinde an einen Schulabschluss geknüpft werde. Die Vorwürfe, das Gesetz ziele auf die Diskriminierung von Roma ab oder sei gar verfassungswidrig sei, weist der Minister jedoch zurück.

Gesetz für "lokale Identität" auch juristisch umstritten

Der Anwalt und Verfassungsrechtler Péter Stánicz sieht das anders. Regelungen auf Basis des Gesetzes zu "Wahrung der lokalen Identität" fielen beinahe zwangsläufig diskriminierend aus, sagt er. Auch verfassungsrechtlich sei das Gesetz fragwürdig, da auf seiner Basis Grundrechte eingeschränkt werden könnten, ohne dass klar definiert sei "was die Gesetzgeber unter lokaler Identität verstehen", erklärt der Jurist. Auch dem EU-Recht dürften die Regelungen "zur Wahrung lokaler Identität" in mehreren Punkten zuwider laufen. Neben dem Recht auf Freizügigkeit von Personen behindert es unter Umständen auch den freien Kapitalverkehr. Schließlich könnten Kommunen per Vorkaufsrecht bestimmen, wer wem ein Grundstück oder Haus verkaufen darf.

Das Gesetz hat also das Potential, Roma, aber auch finanzschwache Bürger oder Ausländer, die kein Ungarisch können, zu diskriminieren. Ob es das auch tun wird, hängt davon ab, wie die Kommunalverwaltungen es weiter anwenden. Nennenswerte Proteste oder gar Klagen dagegen gibt es in Ungarn bis jetzt nicht. Auch aus Brüssel kam bisher noch keine Reaktion auf das Gesetz.

MDR (usc)

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